BRD: Geringster Zuwachs bei den Arbeitskosten
Über das vergangene Jahrzehnt stiegen die Arbeitskosten in keinem anderen EU-Land so wenig an wie in Deutschland. Zwischen 2001 und 2011 hatte die Bundesrepublik mit 19,4 Prozent den mit Abstand geringsten Zuwachs in der EU. Dem Arbeitgeberverband BDA ist das immer noch nicht genug.
D wie Dumpinglohn
Von Jörn Boewe, junge welt
Der Geist versteckt sich, wo niemand ihn vermutet. Am Dienstag gab das Statistische Bundesamt in Wiesbaden die durchschnittlichen Arbeits- und Lohnnebenkosten im EU-Vergleich bekannt und erwies sich damit einmal mehr als eine der letzten Bastionen von Vernunft und Aufklärung in der verblödeten Berliner Republik. Wie die Zahlen der Statistiker zeigen, sind die Bruttostundenlöhne und ihre sogenannten Nebenkosten in Deutschland keineswegs außergewöhnlich hoch, wie das seit Jahren von neoliberalen Propagandisten behauptet wird.
Unternehmer in der deutschen Privatwirtschaft bezahlten den Angaben zufolge im Jahr 2011 durchschnittlich 30,10 Euro für eine geleistete Arbeitsstunde. Damit lag die BRD auf Rang sieben der 27 EU-Mitgliedsstaaten. Deutsche Unternehmer sparten gegenüber ihren Kollegen im Nachbarland Frankreich zwölf Prozent je Arbeitsstunde. Spitzenreiter in der EU ist Belgien mit 39,30 Euro je geleisteter Stunde. Teurer war Lohnarbeit für Privatunternehmen im vergangenen Jahr auch in Schweden (39,10 Euro), Dänemark (38,90 Euro), Luxemburg (33,70 Euro) und den Niederlanden (31,10 Euro). Die geringsten Arbeitskosten fielen in Bulgarien mit 3,50 Euro die Stunde an. In acht EU-Staaten, also mehr als einem Drittel, kostet die Arbeitsstunde weniger als zehn Euro. Alle liegen in Osteuropa.
In der Industrie würden für eine Arbeitsstunde in Deutschland 2011 durchschnittlich 34,30 Euro gezahlt. Hier lag die Bundesrepublik auf Rang fünf. Eine Stunde Arbeit in der hiesigen Industrie war jedoch immer noch vier Prozent billiger als in Frankreich. Der mittlere Wert in der Euro-Zone lag bei 29,30 Euro in der Stunde.
Bemerkenswert der langfristige Trend: Über das vergangene Jahrzehnt stiegen die Arbeitskosten in keinem anderen EU-Land so wenig an wie in Deutschland. Zwischen 2001 und 2011 hatte die Bundesrepublik mit 19,4 Prozent den mit Abstand geringsten Zuwachs in der EU. In Frankreich stiegen die Arbeitskosten in diesem Zeitraum mit 39,2 Prozent mehr als doppelt so stark.
Unter »Arbeitskosten« verstehen die Statistiker die Summe von Bruttolöhnen und sogenannten Lohnnebenkosten. Diese bestehen vor allem aus den Sozialbeiträgen der Unternehmer. Bei letzteren liegt Deutschland auf Platz 16 der EU, also im unteren Mittelfeld, hinter Litauen, Estland und Rumänien. So zahlten Privatunternehmer in Deutschland 2011 auf 100 Euro Bruttoverdienst zusätzlich 28 Euro »Lohnnebenkosten«. Damit lag die Bundesrepublik unter dem EU-Schnitt von 32 Euro und weit unter dem Mittel der Euro-Zone von 36 Euro. Die höchsten Nebenkosten fielen in Schweden (52 Euro) und Frankreich (50 Euro) an, die niedrigsten in Malta (zehn Euro).
Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung erklärte, die bescheidene Lohnentwicklung hätte die Exportwirtschaft »enorm beflügelt«, aber »nur schwache Impulse für die Binnennachfrage« gegeben. Dies habe zu den »bedrohlichen wirtschaftlichen Ungleichgewichten im Euro-Raum« beigetragen. Eine »Beschleunigung bei den Löhnen« sei »dringend nötig, denn angesichts der Nachfrageschwäche bei wichtigen europäischen Handelspartnern hängt die deutsche Konjunktur in diesem und im nächsten Jahr am privaten Konsum«.
Unbeirrt zeigte sich die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände. Gegenüber der Nachrichtenagentur dapd kritisierte ein BDA-Sprecher, Deutschland gehöre »weiter zu den teuersten Arbeitsplatzstandorten in Europa«. An »Strukturreformen in der Sozialversicherung zur Senkung der Lohnzusatzkosten« führe kein Weg vorbei.
aus: junge welt v. 25.4.2012
Informationsquelle: www.destatis.de
Siehe auch den Artikel "Deutsche bei Löhnen bescheiden" (taz v. 1.3.2011)
unter http://www.taz.de/Euro-Krise/!66695/