Benutzerspezifische Werkzeuge
Sie sind hier: Startseite über uns SoFoDo-Publikationen Redebeiträge / Referate Das Sozialticket in Dortmund -- ein Zwischen-Resümee, Juni 2008

Das Sozialticket in Dortmund -- ein Zwischen-Resümee, Juni 2008

— abgelegt unter:

Der Bericht wurde für den am 24.06.2008 stattfindenden "Ratschlag Sozialticket" in Bochum erstellt.

Eine Bemerkung vorab für "Ortsfremde": Das Kürzel VRR steht für den "Verkehrsverbund Rhein-Ruhr", dem Zusammenschluß aller kommunalen
Verkehrsbetriebe zwischen Düsseldorf und Dortmund. Bei ihm liegt normalerweise auch die Tarifhoheit.

Die Stadt Dortmund ist nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen, den VRR für dieses Thema zu interessieren, auf eigene Faust vorgeprescht und hat zum 1.2.2008 in Dortmund ein Sozialticket für Einkommensschwache eingeführt. Das Ticket kostet die Betreffenden 15 € im Monat und erweist sich als echter Renner: Ende Juni werden voraussichtlich 20.000 Dortmundern und Dortmunderinnen mit einem Sozialticket unterwegs sein.

1. Zur Vorgeschichte

Die Notwendigkeit eines Sozialtickets für die Nutzung von Bus und Bahn wurde in Dortmund erstmals vom Sozialforum Dortmund thematisiert, und zwar schon kurze Zeit nach seiner Gründung im Herbst 2003. "Dortmunder BürgerInnen, die mit einem Einkommen von weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens leben müssen, erhalten auf Dortmunder Stadtgebiet freie Fahrt im ÖPNV", so hieß es in einem ersten Forderungspapier des Forums vom 20.12.2003.

Im Rat der Stadt Dortmund fand dieses Anliegen zunächst nur Unterstützung bei den Vertretern der PDS sowie des Linken Bündnis Dortmund (heute vereinigt zur Fraktion "Die Linken im Rat"). Die Rathaus-Koalition aus SPD und Grünen lehnte entsprechende Anträge jedoch wiederholt ersatzlos ab und verwies auf die Zuständigkeit des VRR.

Anfang 2007 startete das Sozialforum zusammen mit zahlreichen Bündnispartnern (darunter der Asta der Uni, attac , VCD Dortmund, Sozialverband Deutschland u.v.a.m.) eine breite Kampagne für diese Forderung, die schließlich in eine gut besuchte gemeinsam getragene Veranstaltung im November mündete. Schon zum Zeitpunkt dieser Veranstaltung war klar, daß sich bei der Dortmunder SPD und den Grünen in den vorangegangenen Wochen die Stimmung stark gewandelt hatte und plötzlich durchaus ernsthafte Aussichten bestanden auf die Einführung eines Sozialtickets, das nur in Dortmund gelten würde (offiziell als Pilotprojekt für den VRR bezeichnet). Allerdings nicht zum Nulltarif; im November war noch die Rede von einem Kostenbeitrag der Betreffenden von bis zu 30 € im Monat. Wer sollte das bezahlen?

Kurz vor der entscheidenden Ratssitzung am 13.12.07 wandte sich das Bündnis noch einmal mit einem Offenen Brief an die Damen und Herren RatsvertreterInnen, als Flugblatt auch vor den ARGEn und dem Sozialamt verteilt: Darin wurde noch einmal erläutert, warum angesichts eines Bedarfsansatzes von insgesamt 14,11 € für sämtliche "fremden Verkehrsdienstleistungen" (Stand RS 1.7.07) ein Nulltarif für die Nutzung des innerstädtischen ÖPNV die einzig angemessene Lösung darstellt (Rot-Grün hatten sich inzwischen auf einen Beitrag von 15 € im Monat geeinigt). Zum anderen wurden darin noch eine Reihe von Fragen und Ungereimtheiten hinsichtlich des Berechtigtenkreises angesprochen. [1]

Leider mochte sich die rot-grüne Rathauskoalition den dort vorgetragenen Anregungen nicht anschließen. Es blieb bei den 15 Euro und dem vorgesehenen Berechtigtenkreis (vgl. unten). Aus (verwaltungs-) technischen Gründen konnte das Sozialticket dann erst zum 1. Februar 2008 eingeführt werden; es ist zunächst als 2-jähriges Pilotprojekt angelegt.

2. Ausstattung des Tickets und Antragsverfahren

Das Dortmunder Sozialticket berechtigt zur beliebig häufigen Nutzung von Bus und Bahn innerhalb Dortmunds (inkl. DB-Verkehrsmittel), unabhängig von der Tageszeit. Der Leistungsumfang (und auch das Aussehen des Tickets) entspricht einem normalen VRR-Ticket 1000, Preisstufe A. Das Ticket ist grundsätzlich personengebunden, also nicht übertragbar, und wird in Form eines Jahresabos ausgegeben.

Das Ticket wird von den Dortmunder Stadtwerken als Betreibern der Verkehrsbetriebe ausgestellt. Für die Beantragung ist wegen der Beschränkung auf Leistungsbezieher (vgl. unten) das städtische Sozialamt zuständig; hier müssen die Anträge eingereicht werden. Antragsformulare gibt es auch in den städtischen Sozial-/Seniorenbüros in den Vororten, im örtlichen Arbeitslosenzentrum sowie als Download im Internet unter www.sozialticket.dortmund.de

Die Vorlaufzeit für die Bearbeitung eines Antrags beträgt einen Kalendermonat. Der Monatsbeitrag von 15 € wird zu Beginn jeden Monats vom Konto abgebucht. Für Menschen, die kein Bankkonto besitzen, ist auch eine Barzahlung möglich.

3. Berechtigtenkreis

Das Sozialticket kann von allen LeistungsbezieherInnen nach SGB II (also Hartz IV), SGB XII (Grundsicherung/ Sozialhilfe) und Asylbewerberleistungsgesetz sowie von EmpfängerInnen wirtschaftlicher Jugendhilfe beantragt werden. Die Grundgesamtheit beträgt damit knapp 95.000 berechtigte DortmunderInnen (Datenbasis: 2005), nach Abzug der -- unentgeltlich beförderten -- Kinder unter 6 Jahren noch 83.000. Die für Ende Juni erwartete Zahl von 20.000 NutzerInnen des neuen Tickets entspricht also -- je nach Grundgesamtheit -- bereits einer beachtlichen Quote von 20 bis 25 Prozent aller Berechtigten. Und das sechs Monate nach Einführung!

4. Finanzierung

Gegenüber dem VRR müssen die Dortmunder Stadtwerke eine Einnahme von mindestens 39 € pro verkauftem Monatsticket ausweisen (entsprechend dem Preis des aktuell billigsten VRR-Vollzeittickets, dem Großkundentarif im Abo). Die Differenz zwischen dem Abgabepreis von 15 € und diesen 39 € trägt formell die Stadt Dortmund; sie hat dafür per Beschluss des Rates auf Rückflüsse aus Jahresgewinnen der Stadtwerke in gleicher Höhe verzichtet.

5. Einführung des Sozialtickets durch Struktur der hiesigen Verkehrsbetriebe begünstigt

  • Die Dortmunder Stadtwerke dsw21 sind eine 100%ige Stadttochter. Defizite aus den Verkehrs­betrieben -- und z.B. auch aus dem Betrieb des Dortmunder Flughafens -- werden durch Gewinne in anderen Sparten (mehr als) ausgeglichen. Im Ergebnis können die Stadtwerke Jahr für Jahr Millionen-Beträge an die Stadt ausschütten.
  • Das Dortmunder Stadtgebiet wird ÖPNV-mäßig fast ausschließlich von den Dortmunder Verkehrsbetrieben versorgt, sieht man mal vom schienengebundenen Personenverkehr (SPNV) ab. Das bedeutet: Aus den Erlösen des Ticketverkaufs fließt kaum etwas an Nachbargemeinden ab. In Hinblick auf die unilaterale Einführung eines Sozialtickets ebenfalls wichtig: der daraus resultierende geringe Abstimmungsbedarf mit anderen Verkehrsbetrieben.
  • Und umgekehrt betrachtet, operieren die Dortmunder Verkehrsbetriebe -- bis auf einige wenige Linienabschnitte -- auch nur ausschließlich auf Dortmunder Stadtgebiet. Das bedeutet mit Blick auf das Sozialticket: kein "Abfluss" von Vorteilen aus zusätzlichen Erlösen (bzw. dem damit verbundenen reduzierten Defizit der Verkehrsbetriebe).

6. Einschätzung und Kritikpunkte

Ein Viertel der heutigen Sozialticket-InhaberInnen besaß vorher ein anderes Monatsticket (zu regulären Preisen) [2]. Aber auch unter Berücksichtigung dieser "Umsteigerquote", einer nicht quantifizierbaren Mindereinnahme beim Barverkauf sowie einer etwas erhöhten Inkasso-Ausfallquote von 4-6 % dürfte sich das Ganze schon heute für die Dortmunder Stadtwerke rechnen. Es kommt durch das Sozialticket insgesamt mehr rein, was wiederum den Jahresverlust verringert (und den Verzicht der Stadt auf Rückflüsse -- vgl. oben -- tendenziell gegenstandslos werden läßt). [3] Um so erstaunlicher, dass die dsw21 das Sozialticket bis heute nicht offensiv bewerben.

Selbst wenn die Stadt Dortmund am Ende vielleicht doch noch ein paar Euro drauflegen müßte: Sie hat mittels dieser Maßnahme -- trotz und entgegen der anfänglichen Bedenken im Rat, der Stadtspitze und bei den Stadtwerken - schon heute 20.000 einkommensschwachen BürgerInnen dieser Stadt bessere Mobilitätsmöglichkeiten beschert. Ohne wirklich was investieren zu müssen.

Unter den InitiatorInnen der Kampagne für ein Sozialticket zum Nulltarif wurde die Einführung dieses Sozialtickets gleichwohl recht unterschiedlich eingeschätzt. Die Spanne reicht von "großem Teilerfolg" bis zu wesentlich zurückhaltenderen Einschätzungen. Weitgehende Einigkeit besteht im Sozialforum darin, dass es sich alles um allen um eine eher halbherzige Maßnahme des Rats handelt, die nur scheinbar die grausame Realität des Eckregelsatzes aufnimmt, und dass jedes Sozialticket - gemessen am anti-sozialen Meilenstein Hartz IV - allenfalls ein Tropfen auf eben diesen heißen Stein sein kann. Ferner: Ohne den beharrlichen Druck von außen (des Sozialforums, des Aktionsbündnisses "Sozialticket zum Nulltarif auf Dortmund-Pass" und weiterer Organisationen), ohne die ständige Thematisierung der unzureichenden Mobilitätsvoraus­setzungen und der seit Hartz IV rapide gewachsenen Armut in dieser Stadt hätte es auch dieses 15 €-Ticket nicht gegeben.

Letztlich kamen aber wohl günstige lokale (und z.T. auch bundesweite) Umstände hinzu, die den über­raschenden Meinungsumschwung bei den beiden Rathausparteien SPD und Bündnis90/Die Grünen zugunsten der Einführung eines Sozialtickets befördert haben, etwa das Bekanntwerden erster Ergebnisse aus dem "Berichts zur sozialen Lage in Dortmund" (Herbst 2007) sowie eine spürbar zunehmende Nervosität angesichts der Umfrageergebnisse der neuen Partei DIE LINKE in den letzten Monaten.Einige Dinge aber bleiben bei der jetzigen Konstruktion des Dortmunder Sozialtickets völlig unbefriedigend. Vor allem ist der Berechtigtenkreis zu eng gefaßt, weil er einen Leistungsbezug nach SGB II (Alg II/Sozialgeld) oder SGB XII (Grundsicherung) zur Voraussetzung hat. Menschen, die -- sei es aus Scham oder Unwissenheit, sei es, um sich nicht der oft schikanösen und erniedrigenden Behandlung durch die ARGE auszusetzen -- auf einen (Rest-) Anspruch auf Alg II oder Grundsicherung verzichten, gehen auch beim Dortmunder Sozialticket leer aus. Gekniffen ferner die Leute mit Kinderzuschlag (nach § 6a Bundeskinder­geldgesetz) sowie diejenigen, die mit ihren Einkünften und/oder Rücklagen knapp über den offiziellen Bedürftigkeitsgrenzen liegen, nach normalen Standards aber gleichfalls als arm gelten müssen.

Die Haltung der Dortmunder SPD-Fraktion in dieser Frage spricht für wenig Realitätsnähe, wenn sie damit argumentiert, daß der Regelsatz nach SGB II/SGB XII im Vergleich zur früheren Sozialhilfe "mehr als um 10% angehoben wurde und der Personenkreis der Anspruchsberechtigten im Bereich der Arbeitslosenhilfe (gemeint wahrscheinlich das Alg II) deutlich ausgeweitet wurde", die vormalige 10 %-Regelung aus der Sozialhilfe damit "sachlich begründet entfallen" konnte. [4] Einhellige Meinung des Sozialforums dazu: "Das Sozialticket muss zumindest auch allen Geringverdienern, Rentnern und sonstigen Leistungsbeziehern (z.B. von Alg I) gewährt werden, deren laufende Einnahmen sich innerhalb oder nur geringfügig über den Regelsätzen nach SGB II/SGB XII bewegen." [5]

Ein weiterer Schwachpunkt liegt in der Festlegung der betreffenden Haushalte auf ein Jahresabo. Nicht jeder, der mit jedem Pfennig rechnen muss, möchte das ganze Jahr über ein Monatsticket halten; und manche legen eher Wert auf gelegentliche Fahrten über die Stadtgrenzen hinaus (die ja nicht inbegriffen sind). Dazu aus dem Flugblatt des Dortmunder Sozialforums: "Wenn schon kein Nulltarif, dann verlangen wir als Ergänzung zum Sozialticket vergünstigte Einzeltickets (wie in Köln), um die Wahlmöglichkeiten für die Betroffenen zu verbessern. Auch die Abgabe des Sozialtickets in Form eines Jahresabos darf nicht der Weisheit letzter Schluß sein: Wieso soll der/die Einzelne nicht monatsweise, entsprechend seinen/ihren jeweiligen Plänen und Bedürfnissen, zwischen der Nutzung des Sozialtickets oder der Nutzung von (ermäßigten) Einzeltickets entscheiden können? Der Zusatzaufwand für die Verkehrsbetriebe wäre gering."

Weitere Infos und Berichte zum Thema unter: https://agora.free.de/sofodo/themen/do-spez-1/sozialticket

Heiko Holtgrave, 20.6.2008
AKOPLAN -- Institut für soziale und ökologische Planung e.V., Dortmund
www.akoplan.de

 

  1. Zu den einzelnen Bedarfsansätzen im Alg II-Regelsatz siehehttps://agora.free.de/sofodo/ueber-uns/publikationen/dokumentationen/Regelsatz-Teilbedarfe_1-7-2007.pdf
  2. Diese Quote erscheint auf den ersten Blick erstaunlich hoch. Eine Gruppe ist aber auf jeden Fall heute schon auszumachen, die im hohen Grade zu den "Umsteigern" zählen dürfte: das sind die 1-Euro-Job'ler. Ihr Mobilitätsbedarf ist hoch (i.d.R. 5-Tage-Woche), so dass sich Einzelfahrscheine für sie nicht lohnen, wenn ihre Einsatzstelle nicht gleich um die Ecke liegt, und sie müssen die Fahrten aus der "Aufwandsentschädigung" bestreiten. Von Maßnahmen-Trägern war zu hören, dass sie ihre "TeilnehmerInnen" bereits vor Einführung des Sozialtickets auf das neue günstige Angebot aufmerksam gemacht haben. In Dortmund gibt es aktuell rd. 3000 Arbeitsgelegenheiten!
    Im übrigen sinkt die auf die Gesamtheit gerechnete Umsteiger-Quote von Monat zu Monat.
  3. Das alles natürlich nur unter der Maßgabe, dass für den neuen Zustrom an (Abo-)KundInnen nicht ein einziger Bus bzw. eine einzige Bahn zusätzlich auf den Weg geschickt wird.
  4. zitiert aus der Antwort des SPD-Fraktionsvorsitzenden E. Prüsse v. 10.12.07 auf den oben erwähnten Offenen Brief des Sozialforums
  5. aus: „Trostpflaster, doch hilfreich: das Dortmunder Sozialticket“, Flugblatt des Sozialforums v. 16.3.2008

 

Artikelaktionen