Auswirkungen der Agenda 2010 - Renten, Gesundheit, Erwerbslosigkeit und Lohnarbeit
Vortrag von Wolf Stammnitz (März 2004)
Auswirkungen der Agenda 2010 auf die Bevölkerung in Dortmund
Vortrag in der IG Metall Dortmund-Aplerbeck-Berghofen zur Mobilisierung für den europaweiten Aktionstag gegen Sozialabbau am 3. April 2004
Wolf Stammnitz
(1. Aufgabe)
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Euch allen ist wohl klar, und Kanzler Schröder hat das ja offen ausgesprochen, daß jede/r von uns wie wir hier sitzen bei der Agenda 2010 draufzahlt. Diesen Nachweis kann ich mir also sparen. Aber ein erstes Ziel soll schon sein, ungefähr die Größenordnungen sichtbar zu machen, in denen uns seine Agenda ins Kontor schlägt. Das allein wäre aber auch noch nicht so spannend, wenn tatsächlich stimmt, was der Kanzler behauptet: daß es dabei um eine Modernisierung des Sozialstaats geht, zu der es keine Alternativen gibt. Mein zweites Ziel soll deshalb sein, diese Behauptung auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Und drittens will ich versuchen, die Agenda 2010 in einen größeren Zusammenhang zu stellen, damit wir dann diskutieren können, wie wir als Arbeitnehmer oder Rentner, Gewerkschaftsmitglieder und Wähler uns dazu verhalten wollen. Ich beschränke mich hier und jetzt auf die Auswirkungen der Agenda 2010 auf unsere Sozialsysteme.
Im Grundgesetz steht: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat." Darauf beruht das berühmte Sozialstaatsgebot, und daraus leiten sich bestimmte Prinzipien ab, nach denen der sogenannte "Sozialstaat" funktioniert, wie z.B. das Solidarprinzip, der Schutz der Schwächeren, die gemeinsame Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums für alle usw. Wie diese Prinzipien in die Tat umgesetzt werden, hängt von vielen konkreten gesellschaftlichen Bedingungen ab, die sich verändern, und je nachdem müssen sich die sozialen Institutionen auch ändern, das ist ganz klar. Wenn es also um die Modernisierung von Sozialsystemen geht, ist zu fragen: In welche Richtung sollen sie sich verändern, bringt das die Grundprinzipien des Sozialstaats unter den veränderten Bedingungen besser zur Geltung oder nicht?
Wir werden im Lauf meiner Darstellung immer wieder darauf stoßen, daß die Agenda 2010 etwas ganz anderes bewirkt, nämlich einen Systemwechsel vorantreibt, der die bisher gültigen Prinzipien unserer Sozialsysteme aushebelt.
(2.1 Renten)
In den nächsten Tagen sollen den Rentnern unter uns die neuen Rentenbescheide in die Briefkästen flattern. Daraus geht hervor, daß die Rentner in 2004 keine Rentenanpassung erhalten und zudem ab 01.04.04 den vollen Pflegeversicherungsbeitrag selbst bezahlen müssen. Das macht zusammen eine dauerhafte Rentenminderung um ca. 2,5%. Egal ob endlich die Konjunktur wieder anzieht oder nicht � für die Rentner wird es in diesem Jahr keinen Aufschwung geben.
Hinter der Rentenkürzung verbergen sich schon die ersten Symptome des Systemwechsels. Dies ist die erste reale Rentenkürzung in der Geschichte der Bundesrepublik.
Dabei tröstet es wenig, daß die Bundesregierung sich verspekuliert hat: Statt der Nullrunde wäre die im Jahr 2000 geänderte Rentenformel wegen der schwachen Lohnerhöhungen sogar auf minus 0,1% gekommen. Aber so oder so bedeutet die Nullrunde real ein Minus von über einem Prozent. � Übrigens hat das Bundessozialgericht in Musterprozessen zur Rentenreform 2.000 entschieden, daß die Anpassung der Renten an den Anstieg der Lebenshaltungskosten zum grundgesetzlich geschützten Besitzstand der Rentner gehört. Demnach ist die jetzige Rentenkürzung möglicherweise verfassungswidrig, und es empfiehlt sich daher, im Hinblick auf angekündigte Musterklagen, dem Bescheid zu widersprechen. �
Bis jetzt galt es als selbstverständlich, daß beides, wie die Rentenversicherungsbeiträge, so auch die ausgezahlten Renten sich nach den Löhnen richten. Man sollte meinen, nach bürgerlichem Recht wäre es nur recht und billig, beide mit der gleichen Elle zu messen, und tatsächlich hat nicht einmal die Kohlregierung, bei all ihren Manipulationen am Rentensystem, jemals gewagt dies Prinzip zu durchbrechen. Erst eine sozialdemokratisch geführte Regierung konnte den Widerstand der sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften soweit still legen � nicht aller Gewerkschaften, aber doch der größten; im Dortmunder DGB und in unserer IG Metall herrscht ja heute noch die Auffassung vor, den Widerstand gegen diese Regierung möglichst klein und moderat zu halten; bei Verdi dagegen spürt man ein gewisses Umdenken; da gibt es also gewisse Unterschiede, die auch Hoffnung machen, daß der Widerstand wieder erstarken kann. �
Der zweite Systembruch, der uns in der nächsten halben Stunde immer wieder begegnen wird, ist folgender: Seit Bismarck die gesetzlichen Sozialversicherungen einführte, galt es als ausgemacht, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Beiträge zu gleichen Teilen tragen, weil nämlich, so die Logik des Systems, beide einen Nutzen daraus ziehen. Die Pflegeversicherung war die erste Pflichtversicherung seit Bismarck, die die Versicherten alleine bezahlen. Davon waren die Rentner bis jetzt noch zur Hälfte befreit. Jetzt kommen auch sie für ihre Pflege voll und ganz allein auf.
Es soll aber noch weiter gehen. Noch im März will die Regierung mit ihrer nächsten Rentenreform das umsetzen, was der CDU-Minister Blüm nicht mehr schaffte, und wozu der Sozialdemokrat und IG-Metaller Riester � erinnert euch: dem verdankten wir im Jahr 2000 den ersten großen Systembruch in der Rentenversicherung, 112 Jahre nach Bismarck, den schritt-weisen Übergang vom Umlageprinzip zum Kapitaldeckungsprinzip � wozu also der die Tür öffnete, nämlich zur fortschreitenden Absenkung des Rentenniveaus, das will Schröder jetzt bis dahin treiben, wo das ganze Rentenversicherungssystem absurd wird und umkippt. Was Blüm "Demografiefaktor" nannte und Riester "Ausgleichsfaktor", nennt man jetzt "Nachhaltigkeitsfaktor" � eins so verlogen wie das andere, ich gehe zum Schluß noch kurz darauf ein � das wesentliche daran ist: langfristig sollen die Renten von heute 68% der Nettolöhne auf 52% � oder 55%, darüber streitet die SPD noch mit ihrer Regierung, aber egal wie der Streit ausgeht, sollen die Renten � etwa um ein Fünftel schrumpfen. Wenn die tatsächlich ausgezahlten Durchschnittsrenten, die heute knapp über 700 Euro liegen, um ein Fünftel abgesenkt werden, fallen sie unter das Sozialhilfeniveau, d.h. unter das staatlich gestützte Existenzminimum. Damit wird das ganze Umlageprinzip ad absurdum geführt, dann finanziert man nämlich mit seinen Versicherungbeiträgen eine Pflichtleistung des Staates. Der Streit in der SPD geht nur noch darum, wo genau die Grenze zum Verfassungsbruch verläuft, und die Regierung setzt offenbar darauf, daß auch Verfassungsrichter dem Zeitgeist folgen und schon für rechtens erklären werden, wozu es angeblich keine Alternative gibt.
(2.2 Gesundheit)
Kürzer fassen kann ich mich zur Gesundheitsreform. Ihr alle wißt sicher, daß jede/r von uns wie wir hier sitzen, ab 01.01.04 durch Praxisgebühren und Zuzahlungen jährlich bis zu 2% vom Bruttohaushaltseinkommen verliert. Das entspricht de facto einer jährlichen Einkommenssenkung um real 2,5% für alle Pflichtversicherten.
Damit wurde im Gesundheitswesen das weiter beschleunigt, was die Kohlregierung schon mit Zuzahlungen anfing und was die erste Regierung Schröder bei den Renten fortsetzte, nämlich der Systemwechsel weg von der paritätischen Finanzierung hin zur sogenannten Eigenverantwortung der Versicherten. Für Krankengeld und Zahnersatz zahlen die Arbeitgeber künftig überhaupt keinen Beitrag mehr, dafür müssen die Versicherten ab 2005 bzw. 2006 allein aufkommen. Und die Rentner trifft diese Kürzung ja zusätzlich zur Rentenkürzung, zusammen ist das real ein Minus von 5%.
"Eigenverantwortung" ist in diesem Zusammenhang ein schönes Wort. Es bedeutet: Wer sich z.B. als Rentner eine 5%-Einkommenskürzung nicht leisten kann oder will, hat die Eigenverantwortung, sich genau so zu verhalten, wie der Kanzler es will, wenn er sagt: "20% der Kosten im Gesundheitswesen sind durch Über- und Fehlversorgung verursacht. Daher hält die Regierung die Versicherten zu kostenbewußtem Verhalten an." Also weniger zum Arzt gehen, weniger Medikamente, Heil- und Hilfsmittel beanspruchen, als Arbeitnehmer sich nicht krank schreiben lassen! Ob du krank bist oder nicht, bestimmt seit 1. Januar weniger dein Arzt als dein Portemonnaie. Mit "Eigenverantwortung" wird also nur dein marktkonformes Verhalten beschönigt. Aus dem Sozialstaat wird so der Wettbewerbsstaat, den die Marktliberalen uns seit Jahren predigen, und dem jetzt eine große Koalition zum Durchbruch verhilft. Weil davon natürlich niemand gesünder wird, ist das eigentlich keine Gesundheitsreform, sondern eine Krankheitsverschleppungsreform.
(2.3 Hartzgesetze)
Nun müssen wir uns einer Reform zuwenden, der man erst auf den zweiten Blick ansieht, daß sie uns alle betrifft, nämlich die sogenannten Hartzgesetze zur Modernisierung des Arbeitsmarktes. Auf den ersten Blick geht es dabei um die Arbeitslosenversicherung. Auf den zweiten Blick aber geht es darum � ich nehme das mal vorweg � mithilfe einer allgemeinen Senkung der Masseneinkommen und einer Deregulierung des Arbeitsmarktes den Standort Deutschland fit zu machen für den Wettbewerb mit Indien, Taiwan, Tschechien, Ungarn usw.
Da werden zunächst die Ansprüche auf Arbeitslosenunterstützung drastisch zusammengestrichen. Die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld wird von bis zu 32 Monaten (je nach Lebensalter) auf künftig 12 Monate bis zum 55. Lebensjahr und 18 Monate für über 55-Jährige verkürzt. Statt der bisher anschließenden Arbeitslosenhilfe von 30 bis 40% des letzten Bruttolohns gibt es ab 01.01.05 ein sogenanntes "Arbeitslosengeld II". Einheitlich auf Sozialhilfeniveau. Dies ALG II bricht nun gleich in mehrfacher Hinsicht mit dem bisherigen Sozialsystem.
Erstens war die Alhi wie gesagt auf den letzten Arbeitslohn bezogen und erinnerte insofern noch an die ursprüngliche Versicherungsleistung aus der Arbeitslosenversicherung. Dagegen ist das neue ALG II genau wie die Sozialhilfe bedarfsabhängig, d.h. sie entspricht einem einheitlich von Amts wegen definierten Existenzminimum und setzt die individuelle Bedürftigkeit voraus. Das Existenzminimum wurde auf pauschal 345 Euro monatlich für eine alleinstehende Person festgeschrieben, hinzu kommen nur noch Miet- und Heizkostenzuschuß. Wer vorher sagen wir 2.000 Euro brutto im Monat verdiente und länger als ein Jahr arbeitslos ist, bekommt ab Januar 2005 noch 666 Euro ALG II, alles inklusiv. Wer weniger als 1.800 Euro verdient hatte, war schon jetzt auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen, für den bedeutet das ALG II keine weitere Verschlechterung. Aber jede/r dritte Langzeitarbeitslose verliert nun jeglichen Unterstützungsanspruch, weil das Partnereinkommen und Vermögen verschärft angerechnet werden.
Folgte die Alhi noch dem Versicherungsprinzip als individueller Anspruch des Versicherten, so tritt nun im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung anstelle des Versicherten die sogenannte "Bedarfsgemeinschaft", in der er/sie lebt. Also eine Art Sippenhaftung. Der Lebenspartner wie auch Verwandte und Verschwägerte im Haushalt des Versicherten haften mit ihrem Einkommen und Vermögen (oberhalb sehr geringer Freigrenzen, auf die ich hier nicht näher eingehen kann).
Aber sie werden nun auch verpflichtet, selbst alles zu tun, damit der Versicherte aus der Bedürftigkeit herauskommt. Hierin liegen nun mehrere sehr umfassende Systembrüche.
(Zur Erinnerung: 1. Systembruch � weg von der Lohnersatzleistung hin zum Existenzminimum; 2. Systembruch � weg vom Versicherungsprinzip hin zur Sippenhaftung; und jetzt 3.:)
Mit dem Langzeitarbeitslosen und mit allen (erwerbsfähigen oder sozialgeldberechtigten) Mitgliedern seiner Bedarfsgemeinschaft schließt jetzt die Agentur für Arbeit sogenannte "Eingliederungsvereinbarungen" ab, in denen sie zu bestimmten Maß-nahmen verpflichtet werden, um aus der Bedürftigkeit herauszukommen. Insbesondere jede zumutbare Arbeit anzunehmen.
Als zumutbare Arbeit gilt jetzt jede legale Tätigkeit, mit der Einkommen erzielt werden kann. Damit entfällt der Schutz der freien Berufswahl � ein Grundrecht mit Verfassungsrang! Es entfällt jegliche Tarifbindung. Es entfällt sogar jeglicher arbeitsrechtliche Schutz, denn Langzeitarbeitslose und in ihrem Haushalt Lebende können nun vom Fallmanager der Agentur für Arbeit per Eingliederungsvereinbarung in Leiharbeit, Minijobs und zur Gründung von Ich-AG�s oder Familien-AG�s gezwungen werden. Wer wegen fehlender Betreuungsmöglichkeit für Kleinkinder nicht erwerbsfähig ist, kann z.B. verpflichtet werden, fremde Kinder von alleinerziehenden Müttern mit zu betreuen, damit diese arbeiten gehen können. Usw.
Beruhte die Arbeitslosenversicherung bisher auf dem Prinzip, daß Arbeitslosigkeit ein systemtypisches Risiko der Marktwirtschaft ist, das folglich auch gemeinsam von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen werden muß, so tritt jetzt an die Stelle des Versicherungsprinzips das Schuldprinzip des Arbeitslosen: mit der Eingliederungsvereinbarung schuldet der Langzeitarbeitslose dem Staat den Nachweis, alles zu tun, damit er der Wirtschaft nicht länger auf der Tasche liegt. Als Ursache der anhaltenden Massenerwerbslosigkeit erscheinen so nicht mehr die 6 bis 7 Mio fehlenden Arbeitsplätze, sondern wer länger als ein Jahr arbeitslos ist, muß selber schuld sein. Schröder sagt: "Es ist notwendig, vor dem Hintergrund einer veränderten Vermittlungssituation Arbeitsanreize zu geben." Bei einem Verhältnis von 18 Arbeitsuchenden auf eine angebotene Stelle in Dortmund kann man das nur als Verhöhnung der Opfer empfinden.
Zur Schuld gehört die Strafe, zur Pflicht gehört der Zwang, und hier kommt der nächste, erschreckende Systembruch. Erfüllt ein Langzeitarbeitsloser oder ein Mitglied seiner Bedarfsgemeinschaft die Eingliederungsvereinbarung nicht, z.B. indem er sich nicht "ausreichend" um Arbeit bemüht, eine angebotene Arbeitsgelegenheit ablehnt o.ä., so kann beim ersten Verstoß das ALG II (bzw. das Sozialgeld) um 30% gekürzt werden, bei fortgesetzten Verstößen um weitere 30% usw. bis dahin, daß nur noch Sachleistungen gewährt werden. Unter 25-Jährigen kann das ALG II sogar ganz auf null gestrichen werden. Anspruch auf Sozialhilfe besteht in solchen Fällen nicht mehr. Aus dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum wird hier über Nacht ein Freßpaket, das gerade vor dem Verhungern bewahrt. Die Entscheidungshoheit über den schuldhaften Verlust der Menschenwürde liegt beim Fallmanager der Agentur für Arbeit. Schöne neue Welt � ganz losgelöst vom Geist der Verfassung.
Man mag das bedauern � aber es betrifft doch "nur" Langzeitarbeitslose, oder? Kolleginnen und Kollegen, das betrifft uns alle. Moralisch sowieso, weil es die Solidarität in der Gesellschaft untergräbt. Aber auch wirtschaftlich betrifft es uns alle. Wenn ca. 18.000 Langzeitarbeitslose in Dortmund bis ans Existenzminimum und zum Teil darunter bedrückt werden. Denn die sind gezwungen, jeden, wirklich jeden Job anzunehmen. Anders war in Deutschland kein Niedriglohnsektor durchzusetzen. Seitdem boomen die Minijobs, von denen man drei oder vier zum Leben braucht. Seitdem boomen die Existenzgründungen, gnadenlose Selbstausbeutung, die "Vorhölle des Kapitalismus", wie die Frankfurter Rundschau das neulich nannte. Gefolgt von einer in der Geschichte der BRD noch nie dagewesenen Pleitewelle. 27.000 Dortmunder/innen sind überschuldet, war dieser Tage zu lesen. Für 42.000 Langzeitarbeitslose und erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger muß die Stadt künftig die Wohnkosten zuschießen, das wird sie an anderen Stellen einzusparen versuchen. Das trifft uns alle.
Nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ab 2005 soll das Schuldprinzip auf die Sozialhilfe übertragen werden. Dann wird jede/r Sozialgeldberechtigte verpflichtet, bis zu drei Stunden täglich gemeinnützig, d.h. nahezu unentgeltlich arbeiten. Dadurch können in Dortmund hunderte weitere Stellen im Öffentlichen Dienst gestrichen werden, aber auch tausende Normalarbeitsverhältnisse am 1. Arbeitsmarkt, deren Löhne dann nicht mehr konkurrieren können. Die Folge ist ein allgemeines Lohndumping, das alle Masseneinkommen unter Druck setzt, die Arbeitslöhne, die Preise für Handwerker und Dienstleister, auch die Renten.
In Dortmund leben schon heute nach den Maßstäben der EU und UNO ca. 150.000 Einkommensarme. D.h. mehr als ein Viertel unserer Stadtbevölkerung lebt am Rand des Existenzminimums, jede/r dritte Dortmunder/in kennt Armut aus eigener Erfahrung. Das Dortmunder Akoplan-Institut hat ausgerechnet, daß allein durch die Hartzgesetze in Dortmund jährlich ein halbes Prozent bis 0,85% an Kaufkraft verloren geht. D.h. die Hälfte des für 2004 prognostizierten Wirtschaftswachstums kommt in Dortmund nicht an. Die andere Hälfte landet bei den Nutznießern der Gesundheitsreform. So schädlich wirkt sich die Berliner Politik auf uns hier vor Ort aus.
(3. Gründe für die Agenda 2010)
Zum Schluß will ich, wie angekündigt, kurz auf drei Argumente eingehen, mit denen die Agenda 2010 verteidigt wird.
Argument 1 - Kanzler Schröder sagte in seiner Agenda-Rede: "Die Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist und die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt, mehr Beschäftigung zu schaffen." Das ist offenkundig demagogisch. Die untragbar hohen Lohnnebenkosten für die Arbeitnehmer zu beklagen, um sie dann auf Kosten der ausgezahlten Löhne zu senken, ist offenkundiger Betrug. Worum es ausschließlich geht, ist die Entlastung der Arbeitgeber, also Lohnkostensenkung.
Daß damit die Beschäftigung steigen würde, ist längst widerlegt, z.B. durch Heiner Flassbeck, einst Finanzstaatssekretär der ersten Schröderregierung, in der FR vom 26.04.03. Die Lohnstückkosten sanken inflationsbereinigt von 1975 bis 2000 um �6,2% - die Arbeitslosigkeit erhöhte sich in dieser Zeit auf das 8-fache. Akoplan rechnete es für Dortmund durch: Die Lohnsenkung durch Agenda 2010 vernichtet Kaufkraft, vernichtet Binnennachfrage, vernichtet Wirtschaftswachstum. Das ist gera-de den Sozialdemokraten in Regierung und Parlament auch vollkommen klar. Das nehmen sie in Kauf. Denn es geht ihnen um Deutschland als Exportweltmeister und um das Standing deutscher Konzerne auf den globalen Kapitalmärkten. Das glo-bale Lohndumping schwächt überall die Binnennachfrage, vernichtet überall Arbeitsplätze, aber es steigert kurzfristig die Ge-winne und mobilisiert so Kapital für den Weltmarkt. Das verlangen Schröders Freunde in den DAX-Unternehmen von ihm.
Und nicht nur von ihm. Daß Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten heute wirklich den Abbau des Sozialstaats verlangt, erklärte dieser Tage ein Berater der CDU sehr einleuchtend: "Wer früher deutsche Produkte kaufte, mußte unseren Sozialstaat mitkaufen, denn er steckte in Form von Lohnnebenkosten in den Warenpreisen drin. Wenn unsere Produkte wettbewerbsfähig bleiben sollen, können wir uns das nicht mehr leisten." (Warnfried Dettling, FR 26.02.04)
Diese einfache Logik ist die gemeinsame Geschäftsgrundlage der großen Koalition des Sozialabbaus. Weil sich die Berliner Parteien darin einig sind, macht es kaum noch Sinn, zwischen ihnen zu wählen. Entscheiden müssen wir uns, ob wir unser ganzes Leben dieser simplen Logik des wirtschaftlichen Wettbewerbs unterordnen lassen, und die Entscheidung nimmt uns keine Partei und kein Gewerkschaftsvorstand ab. Übrigens entscheiden wir uns auch durch Nichtstun.
Argument 2 - Der Kanzler sagt: "Die Strategie der Kostendämpfung ist an ihre Grenzen gestoßen." Das mag wohl sein, aber diese Grenzen zeigten ihm die Pharmakonzerne und die Ärztelobby. Die angebliche Kostenexplosion der Sozialausgaben sieht so aus: Das Sozialbudget, die Summe aller Sozialausgaben, stieg von 1975 bis 2002 von 31,6% des BIP auf 32,9% - um ganze 1,3%. Die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) stiegen von 1975 bis 2003 von 5,8% vom BIP auf 6,3% - um ganze 0,5%.
Argument 3 - Der Kanzler sagt: "Es wird unausweichlich nötig sein, Ansprüche und Leistungen zu streichen, die schon heute die Jüngeren über Gebühr belasten." Das erfordere die Generationengerechtigkeit. Schon in der Rentendiskussion 2000 wiesen die Gewerkschaftsvorsitzenden Klaus Wiesehügel (IG BAU) und Detlev Hensche (IG Medien) neben anderen nach: Seit Bismarck bis heute ist die Gesellschaft viel stärker gealtert als in den nächsten 50 Jahren zu erwarten, und dennoch hat der Generationenvertrag zur Alterssicherung immer funktioniert, weil und solange die Renten aus den Produktivitätszuwächsen der Wirtschaft finanziert wurden. Erst in den letzten 25 Jahren wurde dieser Mechanismus schrittweise immer mehr zerstört, und zwar durch das Zurückbleiben der Löhne hinter der Produktivität, damit verbundene Einsparung von Arbeit und die Abwälzung der Kosten der Wiedervereinigung auf die Sozialkassen.
Kürzlich hat Prof. Dr. Gerd Bosbach, ein ehemaliger Statistiker des Statistischen Bundesamtes, nachgewiesen, daß alle demografischen Prognosen über Zeiträume etwa bis 2030 oder 2050 wertlos sind. Er schloß daraus � und damit will auch ich schließen: "Soll mit dem Hammer Demografie von einem anderen Schauplatz gesellschaftlicher Auseinandersetzung abgelenkt werden? Will man die Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer von der Teilhabe am Produktivitätsfortschritt abkoppeln? Dann wären die Arbeitnehmer tatsächlich nicht so leicht in der Lage, die Versorgung der Jungen und Älteren zu übernehmen. Das hätte allerdings weniger mit den (angeblich) "unausweichlichen" Folgen des Alterungsprozesses zu tun, sondern wäre eine bewußte politische Entscheidung in Fragen der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums." (FR 23.04.04)