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Arbeitslosigkeit wird bis 2015 hoch bleiben

Die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt wird sich frühestens in zehn Jahren entspannen, sagte IAB-Vize Walwei der Netzeitung. Von Hartz IV erwartet er «allenfalls ein paar wenige positive Effekte».

Die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland wird sich in den kommenden Jahren kaum verringern. Davon geht der stellvertretende Leiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Hans Walwei, aus. «Wir müssen bis 2015 tatsächlich wohl eher mit einer hohen Arbeitslosigkeit rechnen», sagte er im Interview mit der Netzeitung. Die Alterung der Gesellschaft und die damit verbundenen Auswirkungen auf das Angebot an Arbeitskräften wird sich nach Meinung des Experten erst ab 2015 in Deutschland bemerkbar machen.

Das größte Problem für Walwei ist die hohe Zahl der Langzeitarbeitslosen. Es sei wichtig, dass Hartz IV sich «mit dem schwer vermittelbaren Teil der Arbeitslosen auseinandersetzt und hier für Aktivierung sorgt», betonte er. Doch diese Aktivierung setze auch eine «aktive Beschäftigungspolitik» voraus. Es dürfe auf keinen Fall erwartet werden, «dass durch Hartz IV ein großer Beschäftigungsaufbau in Gang kommt». Walwei rechnet «allenfalls» mit ein «paar wenigen positiven Effekten».

Die Netzeitung sprach mit Walwei über den Arbeitsmarkt der Zukunft, die demographische Entwicklung und Hartz IV.

Netzeitung: Die Arbeitslosigkeit hat in Deutschland mit mehr als fünf Millionen einen Rekordstand erreicht. Eine Besserung scheint nicht in Sicht. Die Arbeitsproduktivität steigt, das Arbeitsvolumen sinkt. Wie wird der Arbeitsmarkt angesichts dieser strukturellen Entwicklung in 20 oder 30 Jahren aussehen?

Hans Walwei: Ich würde diese Zukunftsbetrachtung gerne in zwei Perioden aufteilen und zwar vor und nach 2015. Denn ab 2015 gibt es eine wichtige strukturelle Veränderung: Das ist die demografische Entwicklung. Sie gilt als wesentliche Determinante für das Arbeitskräfteangebot und hat sich bereits in der Vergangenheit bemerkbar gemacht. Denn immer mehr ältere Menschen verlassen den Arbeitmarkt, als Jüngere nachkommen. Dieser Prozess wird sich weiter verstärken. Das schlägt ab 2015 massiv durch.

Netzeitung: Weshalb führt das nicht bereits jetzt zu einer Entspannung am Arbeitsmarkt?

Walwei: Das Arbeitskräfteangebot wird bis 2015 in etwa auf dem gleichen Niveau bleiben, weil es noch andere Faktoren gibt, die für ein zusätzliches Angebot sorgen. So wird der vorzeitige Ruhestand durch Rentenabschläge immer unattraktiver, die Frauenerwerbsarbeit nimmt zu, und wir müssen auch mit einer gewissen Zuwanderung rechnen. Dadurch wird der demografische Effekt bis 2015 kompensiert. Danach gibt es keinen Weg mehr zurück, das Angebot sinkt definitiv. Zur Kompensation bräuchten wir unseren Berechnungen zufolge bis 2040 zufolge jährliche Zuwanderungszahlen von etwa 300.000 bis 500.000. Das wäre aber völlig utopisch.

Netzeitung: Das heißt, erst ab 2015 wird die Arbeitslosigkeit abnehmen?

Walwei: Zumindest gibt es eine Chance darauf. Aber ein Rückgang der Erwerbslosigkeit ist keineswegs sicher. Da spielen andere Faktoren auch noch eine Rolle. Wir betrachten den Arbeitsmarkt immer von zwei Seiten: Arbeitskräfteangebot und -nachfrage. Letzteres wird vor allem durch die betriebliche Seite bestimmt. Hier ist das Wirtschaftswachstum, der Fortschritt der Arbeitsproduktivität, die Entwicklung der Arbeitszeiten und so weiter wichtig. Möglicherweise bremst jedoch der Bevölkerungsrückgang die wirtschaftliche Dynamik hier zu Lande.

Netzeitung: Wie wird sich die Arbeitslosigkeit in den kommenden zehn Jahren entwickeln?

Walwei: Wir müssen bis 2015 tatsächlich mit einer wohl eher hohen Arbeitslosigkeit rechnen. Eine von uns vor zwei Jahren durchgeführte Projektion zeigt unter Status-quo-Bedingungen bis 2015 einen kleinen Anstieg der Erwerbstätigkeit für Gesamtdeutschland. Allerdings bezieht sich dieser Zuwachs fast nur auf die alten Bundesländer. In Ostdeutschland sehen wir keinen Silberstreif am Horizont, da ist sogar noch ein weiterer Rückgang der Erwerbstätigkeit zu befürchten.

Netzeitung: Was kann denn die Politik unter diesen Bedingungen leisten?

Walwei: Da das Arbeitskräfteangebot stabil bleibt, hätte eine auf bessere Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zielende Politik gute Chancen die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Wenn es gelänge bis 2015 deutlich mehr Erwerbstätigkeit zu generieren, wäre die von uns projizierte Arbeitslosigkeit nicht als Schicksal zu begreifen.

Netzeitung: Hartz IV lässt sich aber kaum als aktive Beschäftigungspolitik bezeichnen.

Walwei: Wichtig ist, dass sich Hartz IV überhaupt einmal mit dem schwer vermittelbaren Teil der Arbeitslosen auseinandersetzt und hier für Aktivierung sorgt. Das ist ein richtiger, ein großer Schritt. Doch diese Aktivierung setzt eben eine aktive Beschäftigungspolitik voraus. Außerdem gibt es durch Hartz IV eine fundamentale Änderung: Wir verabschieden uns von der Erhaltung des Status quo. Bislang orientierte sich die Arbeitslosenhilfe am früheren Nettoeinkommen. Das gibt es in dieser Form nicht mehr, statt dessen gibt es eine pauschale Leistung. Egal, ob Sie als Redakteurin oder ich als Ökonom arbeitslos werden: Nach einem Jahr sind wir alle gleich. Da gehen wir mit Blick auf die Sozialsysteme völlig neue Wege.

Hartz IV bringt keinen Beschäftigungsaufbau

Netzeitung: Experten werfen der Regierung vor, Hartz IV erhöhe zwar den Druck auf die Arbeitslosen, schaffe aber keine neuen Jobs. Wie bewerten Sie diese Kritik?

Walwei: Wir dürfen auf keinen Fall erwarten, dass durch Hartz IV ein großer Beschäftigungsaufbau in Gang kommt. Da gibt es allenfalls ein paar wenige positive Effekte. Diese reichen hinten und vorne nicht aus, um der Massenarbeitslosigkeit zu begegnen. Hartz IV ist aber ein Einstieg in pauschalierte staatliche Leistungen und damit ein Weg, soziale Leistungen auf die wirklich Hilfebedürftigen zu konzentrieren. Ob man die weit reichenden gesellschaftspolitischen Folgen tragen möchte, nämlich alle gleich zu machen und die Leute schnell mit einem geringen Einkommen zu konfrontieren, möchte ich nicht bewerten. Ich kann als seriöser Wissenschaftler nur die Konsequenzen aufzeigen, nicht mehr und nicht weniger.

Netzeitung: Um nochmals auf den Arbeitsmarkt der Zukunft zurückzukommen: Wo werden die Arbeitsplätze der Zukunft entstehen?

Walwei: Deutschland befindet sich in einem Strukturwandel und auf dem Weg in die Dienstleistungsgesellschaft. Wir rechnen insofern mit einem Zuwachs bei hochwertigen unternehmensbezogenen Dienstleistungen wie beispielsweise im Bereich Forschung, Entwicklung, Beratung, moderner Vertrieb. Zudem erwarten wir Zuwächse bei personenbezogenen Dienstleistungen. Das ist der Bereich Bildung, Erziehung, Betreuung, Pflege. Hier sehen wir - wie auch in den Medienberufen - noch Wachstumspotenziale.

Netzeitung: Welche Jobs werden nicht mehr gefragt sein?

Walwei: Im produktionsorientierten Dienstleistungsbereich wird es einen Rückgang geben. Auch Tätigkeiten im traditionellen Dienstleistungssektor wie Lager, Versand, Transport und Handel werden leicht sinken. Da steckt noch sehr viel Rationalisierungspotenzial drin. Irgendwann werden keine Kassierer mehr an der Kasse sitzen, wir werden alles selbst einscannen. Oder das Internet: Da ist noch eine ganze Menge «Musik» drin. Netto kommt es dabei gar nicht zu so gewaltigen Verlusten für die Volkswirtschaft. Statt dessen werden einfache Tätigkeiten durch hoch qualifizierte komplexere Tätigkeiten verdrängt.

Netzeitung: Wie wirkt sich das auf die Qualifikationen und Fähigkeiten aus?

Walwei: Die Qualifikationsanforderungen steigen ganz klar. Wir haben einen höheren Bedarf an Akademikern, einen relativ stabilen Bedarf an Arbeitskräften, die aus dem dualen System kommen und einen Rückgang bei den gering qualifizierten Kräften.

Zwischen USA und Europa liegen Welten

Netzeitung: Dagegen gibt es in den USA viele Jobs mit niedrigen Qualifikationsanforderungen. So gibt es Beschäftigte, die im Supermarkt die Tüten für die Kunden einpacken. Wird es dies auch bei uns geben?

Walwei: Vorsicht! Bei all unseren Berechnungen handelt es sich um Status-quo-Projektionen. Wir unterstellen nicht, dass sich unser Sozialsystem fundamental verändert. Wir haben zwar Hartz IV, aber Sie können das absolut nicht mit US-amerikanischen Verhältnissen vergleichen. Wenn Sie dort arbeitslos werden, gibt es nicht wie bei uns Arbeitslosengeld, sondern erst einmal nur eine pauschalierte Leistung, die lediglich sechs Monate läuft und sofort in die Sozialhilfe führt. Zudem gibt es dort viele Erwerbstätige, die man als arbeitende Arme charakterisieren kann. Dort dient die negative Einkommenssteuer ...

Netzeitung: ... darunter versteht man einen Zuschuss für Sozialhilfeempfänger, wenn sie eine gering entlohnte Arbeit aufnehmen ...

Walwei: ... dieser Zuschuss dient zwar auch der Rückkehr in die Erwerbstätigkeit, vor allem aber dazu, die Leute aus der Armut herauszubringen. Davon sind wir in Deutschland meilenweit entfernt. Zwischen Kontinentaleuropa und den USA liegt nicht nur geografisch ein Ozean.

Netzeitung: Die Arbeitslosigkeit ist in Ländern wie Dänemark mit einer Quote von 5,8 Prozent, Niederlande mit 4,6 Prozent oder Großbritannien mit 4,9 Prozent deutlich niedriger. Was machen diese Länder anders?

Walwei: Mit Blick auf die Beschäftigungspolitik möchte ich den Fall Niederlande herausgreifen. In den Niederlanden kam es zu einem Beschäftigungspakt. Der Staat begleitete den beschäftigungsfreundlichen Kurs der Tarifpolitik mit einer Steuerreform, so dass in der Folge die Bruttolöhne der Arbeitnehmer und damit die Kostenbelastung der Unternehmen weniger stark gestiegen sind als unter anderen Umständen. Die Bruttolöhne wurden also entlastet, ohne die Nettoeinkommen allzu stark zu beeinträchtigen.

Netzeitung: Das heißt, die Steuerbelastung für beide Seiten wurde gesenkt ...

Walwei: Richtig, die Steuern und die Lohnnebenkosten. Dadurch können die Arbeitnehmer eine zurückhaltende Lohnpolitik leichter verkraften. Wenn der Einschnitt auf der Nettoseite nicht so groß ist, kann man auch mit kleineren Zuwächsen bei den Bruttolöhnen viel erreichen.

Netzeitung: Könnte auch Deutschland einen solchen Weg gehen?

Walwei: Der Abgabenkeil zwischen den Arbeitskosten der Betriebe und dem Nettoeinkommen ist in Deutschland extrem hoch. Und das trifft vor allem die unterste Gruppe am Arbeitsmarkt, die Langzeitarbeitslosen. Denn die Löhne sind durch die Abgaben zu hoch, um diese Leute einzustellen. Vor allem bei Geringverdienern müsste man sehr stark ansetzen. Der andere Punkt ist eine beschäftigungsfreundliche Tarifpolitik im weiteren Sinne, sprich: Es ist entscheidend für den Arbeitsmarkt, wie sich Löhne und Arbeitszeiten weiter entwickeln. Das ist vielleicht sogar die wichtigste politische Dimension.

Netzeitung: Wie wird sich die Arbeitszeit in Zukunft entwickeln? Ist die Forderung der Gewerkschaften nach geringeren Arbeitszeiten angesichts der hohen Arbeitslosigkeit sinnvoll?

Walwei: Es kommt vor allem darauf an, so etwas wie Arbeitszeitsouveränität zu realisieren. Dabei müssen die Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten in Einklang mit den Arbeitszeitbedürfnissen der Unternehmen gebracht werden. Irgendwann nach 2015 kommt ja mal eine Zeit, in der Arbeitskräfte knapper werden. Dann ist es mal ganz angenehm, die knappere Seite zu sein und eigene Wünsche realisieren zu können. Das läuft auf eine sehr starke Arbeitszeitflexibilisierung hinaus. Es macht dann weder Sinn, die Arbeitszeit pauschal zu verlängern noch sie pauschal zu verkürzen. Die Unternehmen sollten ganz individuell mit den Beschäftigten vereinbaren, wer wann und wie lange arbeitet.

Das Gespräch führte Michaela Duhr.

Quelle: www.netzeitung.de vom 22. Feb 2005 17:15, ergänzt 23. Feb 2005 08:49

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