Der Fisch stinkt vom Kopf her
Gespräch mit Albrecht Müller. Über Verfallsprozesse in der deutschen Führungsschicht, Korruption in der Wissenschaft, den Durchbruch des Neoliberalismus in der Bundesrepublik und die Folgen
* Albrecht Müller (geb. 1938) ist Ökonom und Publizist. Er war Mitarbeiter von Karl Schiller, Willy Brandt und Helmut Schmidt. Von 1987 bis 1994 für die SPD Mitglied des Bundestages. 2004 veröffentlichte er das Buch »Die Reformlüge«. Siehe auch www.nachdenkseiten.de
F: Demnächst erscheint Ihr neues Buch »Machtwahn – wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet«. Beschreiben Sie einen geistigen und moralischen Verfallsprozeß?
Vorweg muß ich sagen, daß ich nicht der Meinung bin, daß früher alles besser war. Es gab viel schlimmere Zeiten als heute. Aber heute wird besonders sichtbar, daß der Fisch vom Kopf her stinkt, also daß die Probleme wesentlich mit unseren Eliten zu tun haben. In der Tat beschreibe ich einen geistigen Verfallsprozeß, z. B. zeige ich einen Rückfall hinter Positionen – ich nenne das Regression –, die man eigentlich schon erreicht hatte, ein Zurückgehen der Fähigkeit, sich Dinge auszudenken. Ich kann das an vielen Beispielen klarmachen. Es wird z. B. gesagt, daß die Menschen mobil sein müssen. Nun sind die jungen Menschen in Hoyerswerda mobil und dann weg. Anschließend wird erklärt, das liege an der niedrigen Geburtenrate. Es handelt sich um eine Abfolge von Denkfehlern.
Erstens muß man solche Fragen differenziert angehen, und es müssen zweitens möglichst alle Wirkungen beachtet werden. Als ich in der Grundsatzabteilung des Kanzleramtes arbeitete, haben wir uns z. B. damit befaßt, welche Folgen die Kommerzialisierung des Fernsehens hat. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat sich dann dagegen gewehrt, für solchen Unsinn öffentliches Geld auszugeben. In den 80er Jahren wurde das dann aber von Helmut Kohl mit viel öffentlichem Geld durchgesetzt.
Inzwischen ist dieses differenzierte und breite Denken verschwunden. Und die moralische Substanz auch. Nehmen Sie dieses Auseinanderdriften der Einkommen. Die Manager scheinen immer noch zu glauben, daß sie schlecht bezahlt werden, obwohl jemand wie Josef Ackermann das 500fache von dem verdient, was ein einfacher Angestellter erhält.
F: Gilt diese Negativ-Auslese für die Spitzen von Industrie, Finanzpolitik und Medien gleichermaßen?
Da mag es Unterschiede geben. In Ihrer Aufzählung fehlt die Wissenschaft, und deren Verfall halte ich für wesentlich. Ich bin Ökonom. Wenn ich vergleiche, was heute in meiner Wissenschaft und in der Sozialwissenschaft insgesamt abgeht und es mit früher vergleiche – das ist eine Katastrophe. Die Wissenschaft ist in weitem Maße gleichgeschaltet. Viele, die dort tätig sind, man kann es nicht anders sagen, sind politisch korrupt. Sie arbeiten für private Interessen und tun so, als seien sie Wissenschaftler. Als solche werden sie in den Medien herumgereicht. Dort wird z. B. selten gesagt, daß Herr Miegel Interessenvertreter ist.
F: Sie nennen auch Herrn Rürup und Herrn Raffelhüschen.
Ich nenne in dem Buch auch Personen. Man ist in dieser Gesellschaft meistens zu vornehm und nennt niemanden namentlich. Angesichts der Fakten, angesichts dessen, was Wissenschaftler heute treiben, ist das nicht nachzuvollziehen. In dieser Woche war z. B. Herr Biedenkopf bei Frau Maischberger. Er wurde als Vordenker vorgestellt.Tatsächlich ist er seit Jahren Lobbyist der privaten Altersvorsorge. So geht das durch die Bank.
F: Ab wann datieren Sie diese Krise der Eliten?
Das kann man schlecht datieren. Es hängt stark mit dem Vorpreschen der neoliberalen Bewegung zusammen. Das ist eine geistig sehr einfach gestrickte Ideologie. Sie sagen, der Markt muß bestimmen, und die Kosten, die Löhne müssen runter. Das ist borniert einfach. Da bin ich wieder bei der Regression: Als Ökonom kann ich mich nur wundern, wie man derart zurückfallen kann.
Diese neoliberale Bewegung hatte in den 80er Jahren ihren Durchbruch mit Reagan und Thatcher und bei uns mit Lambsdorff. Ich kann es auch so sagen: Mit dem Ende der Kanzlerschaft Willy Brandts begann diese Bewegung bei uns im Westen. Die ersten folgten schon in den 70er Jahren dieser Ideologie, und sie haben sich in den 80er Jahren durchgesetzt. Sie haben das Land wesentlich geprägt und tun heute tun so, als sei das nicht der Fall. Es ist überhaupt eine tolle Geschichte, daß die Neoliberalen so tun, als würden sie mit den Reformen gerade anfangen. Sie haben in den letzten 25 Jahren permanent im neoliberalen Sinne reformiert, beginnend mit dem Ende der Regierung Schmidt. Kohl rühmt sich dieser »Reformen« in seinen Erinnerungen mit Recht. Der damalige Arbeitsminister Blüm weist oft darauf hin, er habe der Wirtschaft die Kosten enorm gesenkt. Damals nannte die SPD das Sozialabbau. Mit Recht.
F: Warum hat sich dieses neoliberale Kartell so durchgesetzt? Wo sehen Sie die Ursachen?
Zunächst sind die treibenden Kräfte gut organisiert: Die Arbeitgeberseite und die Konservativen hatten es mit einer eingeschläferten SPD zu tun, in der es, das habe ich selbst erlebt, sehr unterschiedliche Strömungen gab. Aber eindeutig ist es so, daß Konservative und arbeitgebernahe Kreise in den 70er Jahren beschlossen: So etwas wie den Regierungswechsel 1969 darf es nicht mehr geben, wir müssen ideologisch aufrüsten. Das haben sie dann auch getan.
Das kann man für die 70er Jahre wunderbar nachweisen. Man sprach von Reformklimbim und Reformitis, wobei Reformen damals noch Veränderungen zugunsten der Mehrheit bedeuteten. Damit sollte Schluß sein. Es ging weiter mit der Debatte um den »Standort Deutschland« und immer darum zu transportieren: Die Arbeitnehmer haben zuviel, das soziale Netz ist zu dicht. Diese Strategie ist langfristig angelegt. Ich habe ja selbst Strategien für die damalige SPD-Regierung entwickelt und kann einschätzen, wie so etwas läuft.
Als weiteres Element kam die Demographie hinzu. Ein Dauerthema zur Verängstigung der Menschen. In »ZDF-heute« wurde am Dienstag sogar behauptet, daß der Niedergang von Hoyerswerda etwas mit der Demographie zu tun hat. Das ist geradezu lächerlich, denn es hat mit der Arbeitsmarktlage zu tun und dem dortigen wirtschaftlichen Niedergang. Die Demographie wird schlicht als Instrument benutzt, um die sozialen Sicherungssysteme kaputtzumachen.
F: Welche Rolle spielt in diesen Prozessen die Übernahme der DDR?
Das ist sehr schwer festzumachen. Wie gesagt, diese ideologische Umrüstung, die Attacke auf den Sozialstaat, begann in den 70er und 80er Jahren. Aber jetzt muß ich etwas Kritisches über meine Mitbürger aus der früheren DDR sagen. Ich habe 1990 im Kreis Strausberg Wahlkampf für die SPD gemacht und erinnere mich noch gut, wie ich in Hennickendorf stehe und dafür werbe, daß man begreift, welche Bedeutung das soziale Netz hat. Da gab es viele Leute, die gesagt haben: Vom Sozialen haben wir die Nase voll. Hören Sie auf zu reden, der Kohl bringt uns die D-Mark.
Ich habe aber gegen die Währungsunion gestimmt und wurde damals sogar von Leuten angegriffen, die mir sonst nahestehen. Sie haben nicht verstanden, daß man nicht 1:1 umtauschen kann, wenn man den Betrieben in der ehemaligen DDR eine Chance lassen will.
Außerdem haben sich im Westen die durchgesetzt, die schon immer alles in der DDR schlecht fanden und deshalb blind dafür waren, daß es auch Bedenkenswertes gab, z. B. die Betreuung von Kindern, die Arbeitschancen von Frauen, die Bedeutung der sozialen Sicherheit insgesamt, die Bedeutung der Arbeitsplatzsicherheit. Ich glaube aber nicht, daß die deutsche Einheit ein besonders großer Schub für die neoliberale Bewegung war.
F: Sie schreiben, »in keinem anderen Land ist der makroökonomische Sachverstand so gering wie bei uns«. Das ist eine sehr absolute Formulierung.
Es läßt sich nachweisen, daß in den vergangenen Jahren jede kleine wirtschaftliche Erholung sofort kaputtgemacht wurde. Nehmen Sie den Einheitsboom 1990/91. Er begann schon vorher: 1988 hatten wir ein reales Wachstum von 3,7 Prozent, 1989 von 3,6 Prozent, 1990 5,7 Prozent, 1991 fünf Prozent. Diese Entwicklung wurde dann durch geldpolitische Maßnahmen unter Beteiligung unseres jetzigen Bundespräsidenten und damaligen Finanzstaatssekretärs Köhler abgebrochen. 1992 sackte das Wachstum schon auf 2,2 Prozent ab, 1993 auf minus 1,1 Prozent. Es hätte aber jedem denkenden Menschen klar sein müssen: Die deutsche Einheit schaffen wir nur, wenn wir alle Kapazitäten nutzen, nur dann gelingt es, die Lasten, die damit verbunden sind, zu tragen, einen sozialen Ausgleich zu schaffen und die Infrastruktur zu modernisieren. Es hätte wirklich brummen müssen, um das zu schaffen. Aber man hat den Aufschwung abgebrochen.
Genauso im Jahre 2000: Wir hatten vier Millionen Arbeitslose, und der Sachverständigenrat erklärte, die Konjunktur laufe rund. Ja, wo leben wir denn, wenn so etwas bei vier Millionen Arbeitslosen durchgeht. Heute ist das leider nicht besser. Die Bundesregierung rechnet in diesem Jahr gerade mal mit lächerlichen 1,4 Prozent Wachstum und zieht in 2007 mit den drei Prozent Mehrwertsteuer schon wieder die Bremse. Das ist bar jeden makroökonomischen Sachverstands.
Sehen wir uns die Länder an, in denen makroökonomisch richtig gehandelt wurde – die USA in den 90er Jahren, Großbritannien, Schweden. Diese Länder erreichten über mehrere Jahre Wachstumsraten von rund vier Prozent. Mit diesem Wachstum wurden Arbeitsplätze geschaffen, und diese Volkswirtschaften kamen aus dem Loch heraus. Und wir versuchen es mit den erwähnten 1,4 Prozent, und im nächsten Jahr treten sie das kleine Pflänzchen kaputt. Das ist so was von lächerlich, es zeigt den ganzen Unverstand der Leute, die da tätig sind.
F: Wie erklären Sie sich, daß viele Intellektuelle, die sich früher für klassisch sozialdemokratische Ziele einsetzten, für die Agenda 2010 eintraten?
Das hat zunächst damit zu tun, daß auch Intellektuelle und Künstler die Neigung haben, sich an die Mächtigen anzulehnen. Hinzu kommt, daß diese Leute, und das kann man ihnen nicht vorwerfen, keine Ahnung von ökonomischen Zusammenhängen haben und deshalb darauf angewiesen sind, das zu übernehmen, was so gedacht wird. Wenn aber das Denken insgesamt von den Neoliberalen beherrscht wird, weil sie die Hegemonie erreicht haben, dann übernimmt halt auch ein Intellektueller diesen Quatsch: Daß wir Reformen brauchen, daß wir ein demographisches Problem haben, daß die Löhne zu hoch und die Gewerkschaften zu mächtig sind.
Es kommt noch ein heikles Problem hinzu, ein Zusammenspiel von Konservativen und manchen Linken. Es gibt in der Linken traditionell aus falsch verstandenem Marxismus folgende Position: Mit dem Kapitalismus ist es sowieso vorbei, er geht an seiner Überproduktion zugrunde und dergleichen mehr. Sie halten das System aus diesem Grund für falsch. Die Konservativen finden das System des Sozialstaats falsch. Beide Systemkritiken können sich addieren. Heiner Flassbeck, Gustav Horn, andere und ich stehen sozusagen heimatlos in der Mitte. Wir wollen, weil wir gar keine anderen Chancen sehen, aus der vorhandenen Art von Marktwirtschaft das beste machen. Meine These ist: Laßt uns diese Ökonomie ankurbeln wie in anderen Ländern auch. Wenn die Arbeitnehmer wieder Alternativen haben und zwischen Job-Angeboten wählen können, dann sind sie auch mächtiger, dann können sie auch mal nein sagen, dann werden auch ihre Löhne steigen. Ich bewege mich sozusagen innerhalb dieses Systems, weil ich gar keine Chance sehe, es zu ändern.
Ich sehe oft Sozialwissenschaftler, mit denen ich mich auch auseinandergesetzt habe, die erklären, die Arbeit gehe aus und der Kapitalismus sei zu Ende. Die tauchen auch in jW gelegentlich auf. Da addiert sich einiges. Meines Erachtens ist das eine ziemlich traurige, gefährliche Entwicklung.
F: In welchem Maß sind heute neoliberale Vorstellungen in der Bevölkerung verankert?
Ich beobachte seit den 70er Jahren, daß die Eliten, die den Abschied vom Sozialstaat propagieren, lange Zeit isoliert waren. Noch vor zwei Jahren haben Umfragen sichtbar gemacht, daß die Mehrheit der Menschen die Sozialstaatlichkeit für eine wichtige Errungenschaft hält. Diese Haltung ist aber mit hoher Wahrscheinlichkeit in Auflösung begriffen, weil die Propaganda so penetrant ist. Wenn ständig erzählt wird, das können wir uns nicht leisten, wird jeder normale Mensch mit der Zeit unsicher. Steter Tropfen höhlt den Stein. Die Propaganda gegen die gesetzliche Rente z.B. unter Beteiligung von Müntefering, die wird ihre Wirkung haben. Das sehe ich mit Trauer. Die Bürger in den neuen Bundesländern haben fast ausschließlich nur die gesetzliche Rente. Man zwingt sie, soweit sie es überhaupt können, in die Privatvorsorge. Es wird nur ein kleiner Prozentsatz sein. Das sind verheerende Entwicklungen. Bisher sind aber die Menschen noch einigermaßen resistent.
F: Heiner Flassbeck vertritt die Auffassung, daß die deutsche Politik mit ihrer Schwächung der Binnennachfrage und der Stärkung des Exports die EU-Währungsunion zerstört. Sehen Sie das auch so?
Das ist eine gefährliche Entwicklung. Wir sichern die vorhandenen Arbeitsplätze maßgeblich über den Export, d. h. letztlich: Wir exportieren Arbeitslosigkeit. Indem wir die Löhne hier niedrig halten und andere Länder höhere Steigerungsraten haben, erhöht sich die deutsche Wettbewerbsfähigkeit immer mehr, und die anderen bekommen zunehmend Schwierigkeiten. Frankreich hatte lange Zeit keine Probleme mit der Zahlungsbilanz, hat sie aber jetzt, ebenso Spanien, dasselbe in Italien. Wir zwingen diese Länder zu einer ähnlichen Sparpolitik und einer ähnlichen Lohnpolitik wie hier. Das hat verheerende Folgen für die Arbeitnehmer und die Menschen dieser Länder insgesamt. In der letzten Konsequenz hat es auch Folgen für das Währungssystem. Denn dessen Voraussetzung ist eine einigermaßen gleiche Entwicklung auch der Lohneinkommen in den beteiligten Ländern. Daß es so extrem auseinandergehen wird, daran war nicht gedacht.
Das Gespräch führte Arnold Schölzel
* Am 21.März erscheint bei DroemerKnaur Albrecht Müllers neues Buch: »Machtwahn. Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet«, 365 Seiten, 19,90 Euro.
Das Buch wird am 11. April um 19.30 Uhr
in der Kulturbrauerei, Schönhauser Allee, in Berlin-Prenzlauer
Berg mit einem Streitgespräch zwischen dem Chefredakteur der
Welt am Sonntag, Christoph Keese, und dem IG-Metall-Vorsitzenden
Jürgen Peters vorgestellt.
Quelle: Junge Welt vom 18.03.06