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Ein klein wenig Diktatur

Außenpolitiker aus dem Berliner Establishment diskutieren über einen möglichen Nutzen diktatorischer Regierungsformen. Nach Auffassung mancher Beobachter befinde sich der Westen derzeit in einem "Zustand der Erschöpfung demokratischer Energie und der Erosion demokratischer Institutionen", heißt es in der aktuellen Ausgabe der führenden deutschen Zeitschrift auf dem Feld der Außenpolitik. Zugleich sei "verschiedentlich von diktatorischen Befugnissen und Maßnahmen die Rede", wenn auch meistens im Sinne einer temporären Diktatur.

Die zentrale Frage sei, ob "jenseits der Legalordnung Legitimitätsreserven angezapft" werden könnten, um "eine in die Jahre gekommene Ordnung" - die Demokratie - "zu verjüngen", schreibt die Zeitschrift unter Nutzung von Begriffen, die der NS-Kronjurist Carl Schmitt in den 1930er Jahren verwendete, um die Außerkraftsetzung einer demokratischen Verfassung zu begründen. Der Artikel legt nahe, dass manche Wirtschaftsvertreter autoritären Maßnahmen keineswegs abgeneigt sind, und fragt, ob "der Verfassungsstaat im Systemwettbewerb" gegenüber China und Russland "noch bestehen" kann. Die Diktatur, urteilt der Autor, ein Beiratsmitglied der Berliner Bundesakademie für Sicherheitspolitik, "hat sich als Irrweg erwiesen". Einer Grundsatzdebatte über den Nutzen diktatorialer Praktiken verweigert er sich jedoch nicht.

Eine neue Systemkonkurrenz

Die Zeitschrift "Internationale Politik", die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben wird und als führende Zeitschrift der Bundesrepublik auf dem Gebiet der Außenpolitik gilt, widmet ihre jüngste Ausgabe dem Thema "Diktatur". "Der wirtschaftliche Boom von autokratischen Mächten wie China und Russland", erklärt die Zeitschrift, "hat den Wettbewerb der Systeme neu entfacht."[1] Die Herausgeber fragen im Editorial: "Entfalten autoritäre Systeme wieder einen größeren Glanz - weil sie schneller sind in ihren Entscheidungen als die behäbige Demokratie?" Die Zeitschrift, die mit ihren rhetorischen Fragen ganz offenkundig an eine aktuelle Debatte in Teilen des Berliner Establishments anknüpft, positioniert sich erkennbar auf Seiten der Demokratie: "Der Glanz der Diktatur - er bleibt ein falscher." Dennoch leuchtet die "Internationale Politik" in einem Text ausführlich verschiedene Varianten diktatorialer Herrschaft aus. Autor ist der Berliner Politik-Professor Herfried Münkler, einer der gefragtesten deutschen Politikberater und zugleich Mitglied im Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik.[2]

Postdemokratie

Wie Münkler schreibt, befinde sich der Westen heute "nach Auffassung einiger Beobachter" in einem "Zustand der Erschöpfung demokratischer Energie und der Erosion demokratischer Institutionen". Münkler bezieht sich dabei auf den britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch, der in seiner Schrift "Post-Democracy" einen inneren Verfall westlicher Demokratien konstatiert. Crouch bezeichnet "ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden", in dem jedoch "konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt", als "Postdemokratie". Er sieht die westlichen Staaten auf dem Weg zu einer solchen Gesellschaftsformation.[3] Münkler konstatiert nun, ein "sich ausbreitendes Unbehagen an der Demokratie" verleihe "dem Spiel mit der Diktatur eine gewisse Attraktivität".[4]

Manager und Industrielle

Münkler zufolge führen vor allem die Langsamkeit demokratischer Verfahren, die Schwerfälligkeit demokratischer Entscheidungsprozesse, "Mängel in der Auswahl des politischen Personals" und der "Einfluss von Parteien und Interessengruppen" zum "Wunsch nach 'ein klein wenig Diktatur'".[5] In Ergänzung dazu sei "das administrative Bedürfnis nach 'bonapartistischen Lösungen'" zu finden, die "Vorstellung sachorientierten, entpolitisierten Verwaltungshandelns". "Die Diktatur kommt hier (...) auf verfahrenstechnischen Füßen daher, und ihr Motto lautet, dass entschieden ist, was die Verwaltung entschieden hat." Münkler erwähnt in diesem Zusammenhang ausdrücklich "Manager und Industrielle", die wohl meinten, mit einer Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen "schneller zum Zuge zu kommen", um sich Vorteile in der globalen Konkurrenz verschaffen zu können. Auf die Forderung, eine klassische Diktatur nach dem Modell von Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts einzuführen, liefen die Wünsche nach Abkürzung von Verwaltungsabläufen oder nach "ein klein wenig Diktatur" zur Zeit allerdings nicht hinaus.

Legalität und Legitimität

"Die Demokratie (...) weist Ermüdungserscheinungen und Überforderungssymptome auf, sie bedarf einer Revitalisierungskur", fasst Münkler zusammen, "aber eine alternative Regierungsform, die an ihre Stelle treten könnte, ist nicht in Sicht."[6] Die "Schlüsselfrage" laute also: "Gibt es jenseits der Legalordnung Legitimitätsreserven, die angezapft und in Anspruch genommen werden können, um eine in die Jahre gekommene Ordnung zu verjüngen?" Münklers Frage nutzt Begriffe, die einst der NS-Kronjurist Carl Schmitt anwandte, um die Außerkraftsetzung einer demokratischen Verfassung zu begründen. Schmitt unterschied von der Legalität (Befolgung des positiven Rechts) die Legitimität (Befolgung einer dem positiven Recht übergeordneten Norm), vertrat in den letzten Jahren der Weimarer Republik die Ansicht, Legalität und Legitimität stimmten nicht mehr überein, und bereitete mit seiner These, zum Schutze der Legitimität könne eine Diktatur nötig werden, der NS-Herrschaft den Weg.[7]

Ein kommissarischer Diktator

Münkler ruft in Erinnerung, dass Schmitt "zwischen der kommissarischen und der souveränen Diktatur unterschied". Während die "souveräne Diktatur" eine neue Ordnung schaffe, versuche die "kommissarische Diktatur" eine "Verfassung mit extrakonstitutionellen Mitteln" zu verteidigen.[8] "Wenn heute verschiedentlich von diktatorischen Befugnissen und Maßnahmen die Rede ist, dann zumeist im Sinne dessen, was Schmitt als kommissarische Diktatur bezeichnet hat", sagt Münkler über die offenbar abseits jeder demokratischen Öffentlichkeit geführte Diskussion. "Es gibt bloß kein Verfassungsorgan, das sich auf das Risiko der Einsetzung eines kommissarischen Diktators einlassen will."

Unbekannt

Keinen Zweifel lässt Münkler daran, dass er nach reiflicher Abwägung diktatoriale Mittel ablehnt: "Bei allem Unbehagen an der Demokratie: Die mit der Diktatur in all ihren Varianten verbundenen Risiken sind zu groß."[9] Ob Münklers Ablehnung diejenigen überzeugt, die nach seiner Auskunft "heute verschiedentlich von diktatorischen Befugnissen und Maßnahmen" sprechen, bleibt bislang verborgen.

Quelle: www.german-foreign-policy.com/ vom 15.06.2010


[1] Der falsche Glanz der Diktatur; Internationale Politik Mai/Juni 2010
[2] s. dazu Strategic Community, Ein neues Machtzentrum, Exklusive Ansprechstellen und Nur noch rechtshistorisch bedeutsam
[3] Colin Crouch: Postdemokratie, Frankfurt am Main 2008
[4], [5], [6] Herfried Münkler: Lahme Dame Demokratie; Internationale Politik Mai/Juni 2010
[7] Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, 1932. Zur Rezeption Carl Schmitts durch einen hochrangigen Berater der Bundeskanzlerin s. auch Der Militärberater der Kanzlerin
[8], [9] Herfried Münkler: Lahme Dame Demokratie; Internationale Politik Mai/Juni 2010

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