Ganz unten - Wähler und Gewählte
Je mehr der Politik die Kontrolle entgleitet, um so mehr drängt es sie danach
In der Bundesstadt Bonn nötigt die Stadtverwaltung ihre
Volkshochschule (VHS) soeben, unter den zahlreichen
bürgergesellschaftlichen Anbietern von Sprachkursen für MigrantInnen
eine "Qualitätskontrolle" durchzuführen. Die zu kontrollierenden finden
das nicht witzig, ist die VHS doch selbst Anbieterin und somit
Konkurrentin. CDU und SPD im Stadtrat drängen mit einem Gestus, als
müsse da mal gründlich "aufgeräumt" werden. Dass sie damit
bürgerschaftliches Engagement plattwalzen, stört sie nicht. Solche
Geschichten gibt es jetzt öfter. Sie sind Ausdruck einer Kontrollwut,
die mit dem realen Kontrollverlust von Politik direkt verbunden ist.
Die neoliberale Gesellschaftspolitik kämpfte für das freie
Spiel der ökonomischen Kräfte und nahm dafür den Bedeutungsverlust
demokratisch bestimmter Politik billigend in Kauf. Wichtige
infrastrukturelle Aufgaben im Kommunikations- oder Verkehrsbereich
(Post, Bahn, Telekom), vormals bewältigt von staatlich-bürokratischen
Einrichtungen, wurden nicht etwa demokratisiert, sondern schlicht dem
Markt anheim gestellt. Die herrschende Politik hat auf diese Weise ihre
eigene Demontage mit durchgesetzt.
Folgerichtig hat das Wahlvolk zum Politikbetrieb ein
Verhältnis entwickelt, das dem des Verbrauchers gegenüber dem Verkäufer
ähnelt: Es wird eine Dienstleistung für die gezahlten Steuern erwartet.
Der Wahlakt war sozusagen die Bestellung der Dienstleistung. Was
geliefert wird, finden die Kunden nun überwiegend schwach und wenig
zufriedenstellend. Immer mehr Menschen bestellen deshalb lieber nichts
mehr und gehen erst gar nicht wählen, selbst nach der
Angebotserweiterung durch die Linkspartei.
Es geht immer weniger um Inhalte. Zu- und Abneigungen zu
Politik-Dienstleistern wechseln in immer kürzeren Zeiträumen und immer
größeren Schwankungsbreiten. Kein Wunder, dass die Meinungsforscher
kaum mehr hinterher kommen.
Insbesondere jüngere Menschen nehmen solche Entwicklungen sehr
aufmerksam wahr. Warum sollten sie sich noch die Mühe machen, in
Parteien oder anderen schwer durchschaubaren Organisationen wie Kirchen
oder Gewerkschaften für die Interessen der Demokratie oder schlicht für
ihre eigenen zu kämpfen? Die Aufwand-und-Ergebnis-Rechnung eines
solchen Verhaltens fällt verheerend aus. Das ist einer der Gründe,
weshalb allen Parteien zunehmend ihre Basis abhanden kommt.
Die Politik hat auf diese Weise nicht nur Unsicherheit für ihr
Volk produziert, sondern auch für sich selbst. Sie ist es, die sich
"ganz unten" befindet. Das Ansehen von PolitikerInnen wird von kaum
einer anderen Berufsgruppe noch unterboten. An den Biertischen im
Anschluss an langwierige, anstrengende Gremiensitzungen wird schon nach
Antidiskriminierungsvorschriften für Politiker verlangt. Aber haben sie
es besser verdient?
Fast fünf Millionen Erwerbslose sind registriert, zwei bis
drei weitere Millionen sind es nicht; fast die Hälfte der
Erwerbstätigen haben Angst, dass sie es nicht bleiben. Die Renten sind
nicht sicher. Wir sollen selbst vorsorgen. Wir sollen lebenslang
lernen, um den Anschluss zu behalten. Wir sollen mobil sein und unsere
Ansprüche an die Qualität unseres Jobs und seiner Bezahlung senken. Wir
sollen nicht so oft zum Arzt gehen und uns dort nicht so viel
verschreiben lassen. Wir sollen unsere älteren Familienangehörigen
selber pflegen, statt sie ins Altenheim abzuschieben. Wir sollen dabei
optimistischer sein, mehr leisten und mehr kaufen. Wir sollen mehr
Kinder machen, im Kindergarten einspringen, wenn dort Personal erkrankt
ist, die Schule privat putzen, weil öffentliches Geld fehlt, den
eigenen Kindern einen geordneten, wirtschaftlich gesunden
selbstständigen Betrieb vererben, uns als Mäzene von Kunst und Kultur
betätigen, weil das ja auch nur "freiwillige Leistungen" des Staates
sind. Auch für unsere Beerdigung sollen wir selbst vorsorgen. Da fragt
sich der Mensch doch zu Recht: Wofür brauche ich die Politik noch?
Wir verhalten uns widerspenstig. Wir lernen - mehr als es
gewünscht ist. Kaum ein Kind will noch freiwillig auf die Hauptschule.
Studenten müssen jetzt mit Gebühren abgeschreckt werden. Es wird über
die vielen SeniorInnen in den Unis geklagt, die vor allem in
"schöngeistigen" Fächern den aufstrebenden Jungen die Sitzplätze
wegnehmen. Genauso im Erwerbsleben: Wir sollen bis 67, bald sicher bis
70 arbeiten. Doch wohin sollen dann die Jungen gehen? In Wirklichkeit
ist es natürlich umgekehrt: die Alten fliegen raus, wenn sie Glück
haben mit Abfindung. Junge kommen trotzdem nicht rein.
Der Soziologe Richard Sennett hat in mehreren Büchern
herausgearbeitet, dass sich jeder Mensch nach einer "Erzählung", die
sein Leben hergeben soll, sehnt. Angesichts unbegrenzter
Flexibilitätsanforderungen sei das kaum noch möglich. Die Statistik
gibt ihm Recht. Die Scheidungszahlen steigen, die Kinderzahlen sinken.
Gleichzeitig wird dagegen immer mehr nutzloser Überbau produziert:
Appelle, Wertediskussionen, Sehnsuchtsproduktion. Nie gab es so viele
Telenovelas.
Die Jungen sind heute, wie verlangt, mobil, vor allem die aus
dem Osten. Aber das ist dann auch wieder nicht recht: Städte und Dörfer
veröden, Plattenbauten müssen abgerissen werden, Infrastrukturen
schrumpfen, Schulen müssen geschlossen werden, schon fehlt es an der
ärztlichen Versorgung für die Alten. Wie man es macht, macht man es
verkehrt.
Doch nicht nur Ostdeutsche ziehen dorthin, wo es noch was zu
tun gibt. Polen und Russen tun es auch; Türken sind schon da.
Marokkaner und Algerier sind bis Paris und Brüssel vorgedrungen. Und
hinter denen haben sich Westafrikaner eingereiht, natürlich nur die,
die es sich leisten konnten, diejenigen, die Bildung und Kenntnisse
mitbringen. Sie alle müssen das mit der Mobilität irgendwie
missverstanden haben. Auch die Klage, dass wir mehr Kinder brauchen.
Sie waren doch damit nicht gemeint!
Wenn Völker ihre Regierungen so missverstehen, müssen die
Regierungen zu anderen Mitteln greifen. Zwar hatte niemand die Absicht,
aber eine Mauer muss gebaut werden. Im Moment läuft es auf Nordafrika
hinaus. Dort lassen sich eine Menge Technologien ausprobieren:
Satelliten, Nachtsichttechnik, ganz tolle Bewegungsmelder, nein keine
Selbstschussanlagen, oder doch?
Das betrifft die, die draußen bleiben sollen. Aber was, so
fragen sich die Haushaltsverhandler der Großen Koalition, machen wir
mit unserem eigenen Volk? Zunächst mal die Parasiten bekämpfen, also
die, die Rechte nicht nur haben, sondern auch wahrnehmen wollen.
Jahrzehntelang forderten Wohngemeinschaften und wilde Ehen,
gleichberechtigt wie Familien behandelt zu werden. Als man dieser
Forderung bei Hartz IV nachkommt, ziehen sie wieder auseinander. Das
will eine ordentliche Bürokratie nicht hinnehmen.
Je mehr der Politik die Kontrolle entgleitet, um so mehr
drängt es sie danach. Nachdem sie bewusst immer mehr ökonomische
Befugnisse aus der Hand gegeben hat, merkt sie nun - zu spät - dass mit
der Ökonomie noch viel mehr ins Rutschen gekommen ist. Das scheint man
nicht gewollt zu haben und schlägt nun um sich, vorgeblich gerecht nach
allen Seiten. Denn die "Heuschrecken"-Diskussion geht schließlich gegen
die da oben. Politiker wetteifern in verbaler Abscheu gegen Leute wie
Ackermann oder Schrempp. Angeblich gelten Werte und Sekundärtugenden
für alle. Durchgesetzt werden können sie aber nur nach unten.
Bis heute weiß niemand so recht, warum wir nichts mehr kaufen
wollen. Unser eigensinniges Konsumieren soll deshalb besser überwacht
werden. An jede Ware soll ein Chip ("RFID") angebracht werden, um
elektronisch verfolgen zu können, wo sie gerade ist. Der Verkehr im
Internet, per Telefon und Fax, das Reisen mit der Bahn, dem LKW (und
bald auch dem PKW) etc. wird elektronisch erfasst. Da ist aber noch
vieles zu verbessern. Ob Sie zum Beispiel diesen Artikel im Internet
lesen, wie lange sie das tun, an welcher Stelle sie ihn möglicherweise
gelangweilt wieder verlassen, kann festgestellt und gespeichert werden
("CRM").
Behörden, Geheimdienste, Polizei, Unternehmensberater,
Marktforscher, sowie die vom Wähler gefolterten Meinungsforscher und
Politiker sind scharf darauf. Ihr Hunger scheint unstillbar. Wenn
Fußball-Fans ihre Interessen gegen milliardenschwere Medienkonzerne und
Vereine organisieren, muss man, wie bei der kommenden WM, ein System
finden, wie man möglichst viele von ihnen fernhalten kann. Wenn
TV-Zuschauer ihr Geld zusammenhalten, muss man die frei zugänglichen
Programme verschlechtern, damit sie endlich neue Programme kaufen. Wenn
immer weniger junge Leute Zeitungen kaufen und sich immer mehr im
Internet rumtreiben, muss man endlich kontrollieren, was die da die
ganze Zeit machen. Um das durchzusetzen, muss man nur den Eindruck
erwecken, dass sich dorthin die ganze Welt des Verbrechens verlagert
hat. Drogen-, Waffen-Menschenhandel und Pornographie hat es ja
angeblich vor dem Internet kaum gegeben.
All das lässt sich öffentlich legitimieren, denn die wachsende
Unordnung überfordert nicht nur Politiker, sondern die meisten
Menschen. Jeder braucht Sicherheit und festen Halt, und wenn Asylanten,
Ausländer, Parasiten, jedenfalls Andere (in den sechziger Jahren hießen
sie mal "Gammler") darunter leiden, möge es so sein. "Alles Egomanen
außer ich!" (Jürgen Becker)
Andererseits entdecken immer mehr einen individuellen Weg, um
der Kontrollwut zu entgehen, die Jungen besser als die Alten. Wo das
Geld knapp ist, finden sich preisgünstige oder kostenlose Wege.
Prohibition, egal ob als Verbot oder durch überhöhte Preise, schafft
Schwarzmarkt. CDs oder DVDs zum Beispiel kaufen überwiegend nur doch
die schlechter Informierten. Dass sich die Hersteller und eine
inkompetente Politik dagegen mit Kriminalisierungskampagnen zu wehren
versuchen, dass aufwendige Schauprozesse gegen die Schlauen initiiert
werden, erhöht den Spaßfaktor.
Und wie kriegen wir mehr deutsche Kinder? Bis zum
Kopulationszwang ist es noch ein weiter politischer Weg und die
künstliche Produktion hat ebenfalls ein großes Akzeptanzproblem. Dabei
wäre es ein Politikertraum, sich sein Volk selbst machen zu können.
Doch selbst dann würde es wohl anders als gewünscht.
von Paul Neumann
Quelle: www.freitag.de