Geschichtlicher Aufriß der Armenfürsorge
Schon zu Asterix' Zeiten wurden billige Arbeitskräfte gebraucht - die Sklaven. Unsere heldenhaften Gallier wurden durch ihren Zaubertrank unbesiegbar und konnten somit alle ihre Probleme lösen. Wäre es heute noch so einfach wie bei Asterix! Doch auch diese Geschichte nahm eine andere Wendung, als Asterix wollte.
Von: Jürgen Limburger, Diplom-Sozialpädagoge (FH) Neuwied
Zucht- und Arbeitshäuser
Bereits im Mittelalter gab es Formen des Umgangs mit Armut, die sich von christlichen Vorstellungen herleitete. Betteln und Almosen waren die Stichworte des Umgangs mit der Armut im Mittelalter. In der Neuzeit wurden Arme nicht mehr einfach versorgt, sondern man versuchte die Menschen zur Arbeit anzuhalten, um ihnen die Bürde des Armendaseins “wegzuerziehen”. Die Versorgungslast, welche eine nun bürgerliche Gesellschaft für Randgruppen zu tragen bereit war, sollte nur noch für bestimmte akzeptierte Formen der Armut gelten. “Arbeitscheue Bettler” wurden diszipliniert. Ist die öffentliche Meinung heute noch vielfach auf dem Stand des 18. Jahrhunderts?
Geschichtlicher Aufriß der Armenfürsorge
Das Problem der Armut und der Umgang damit kann bis zum Mittelalter zurückverfolgt werden. Die Versorgung der Armen mit Almosen wurde durch religiöse Vorstellungen sichergestellt, wonach der Almosengeber seiner Seele durch seine Gabe einen Platz im Himmelreich sichere. Der Bettelmann hatte eine akzeptierte Position und Funktion in der mittelalterlichen Ständegesellschaft. Wenn die Almosen auch nicht um seiner selbst willen gegeben wurden, war der Bettler ein integraler Bestandteil der Gesellschaftsordnung. Der in der Armut lebende Bettler war nicht gezwungen, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu erwerben.
Mit dem Niedergang der mittelalterlichen Gesellschaftsform stieg die bürgerliche Mittelschicht zu der gesellschaftlich dominierenden Schicht auf und deren Werte wie Fleiß, Disziplin, Ordnung, Mäßigung wurden für gesamtgesellschaftlich verbindlich erklärt. Bereits ab dem 15. Jahrhundert machten sich erhebliche Änderungen im Umgang mit der Armut bemerkbar. Mit der Reformation wurde ein protestantisches Arbeitsethos postuliert, dem auch die Armen und Bettler unterstellt wurden; kurz, das Problem der Armut wurde anders wahrgenommen.
Die Menschen der bürgerlichen Mittelschicht machten die Erfahrung, daß durch Rationalität, Fleiß, Kapitalreinvestition und mithin die Anwendung der Logik der sich weiter verbreitenden Geldwirtschaft eine Steigerung der Lebensqualität möglich war. Durch Anwendung dieser Normen kam man zu einer rationalen Armutspolitik und zu einer Pädagogisierung der Armenfürsorge.
Es wurde segmentiert zwischen wirklich bedürftigen Armen und solchen, die sich ihre Almosen nur erschleichen obwohl sie eigentlich arbeitsfähig seien. Die Mittel der mittlerweile städtisch verwalteten Armenkassen sollten den wirklich Bedürftigen zukommen; entgegen der Tradition des Mittelalters wurden Bedürftigkeitsprüfungen durchgeführt. Wer nicht als bedürftig angesehen wurde und der der milden Gaben nicht als würdig erachtet wurde, hatte mit Kriminalisierung zu rechnen. 1478 wurden in Nürnberg erstmals Bettelordnungen erlassen, die sich im Laufe eines Jahrhunderts in allen deutschen Städten durchsetzten. Von Bettelordnungen war es kein weiter Weg zu Bettelverboten. Mit diesem Trend der Rationalisierung der Armenfürsorge begann eine städtische Sozialpolitik mit dem Ziel einer erheblichen sozialen Kontrolle der Armen, aber nun auch mit dem Ansinnen, den Menschen um ihrer selbst willen zu helfen. Mit der Aussonderung von "wirklich Bedürftigen" und "Gaunern", die sich milde Gaben erschleichen, wurde der Ruf laut, die Armen durch Arbeit zu erziehen und zu disziplinieren, denn der bürgerliche Wohlstand gründete ja auf diesem Arbeitsethos. Man glaubte, daß man durch Arbeit einen allgemeinen Wohlstand schaffen könne und die Menschen vom Laster befreien könne. Wer nicht arbeiten will, war demzufolge selbst schuld, wenn es ihm schlecht ging. Gesellschaftliche Zusammenhänge wurden noch nicht gesehen, strukturbedingte Ursachen der Armut waren nicht bekannt, man glaubte daran, daß dies Gottes Fügung sei. Durch Arbeit und ein gottgefälliges Leben könne man der Armut und dem Laster entrinnen.
Im Zeitalter des Absolutismus wurden folglich Zucht- und Arbeitshäuser geschaffen. Die erste Zwangsarbeitsanstalt mit erzieherischer Zwecksetzung entstand 1555 in London. Um 1660 entstehen in Deutschland einige Zucht- und Arbeitshäuser, die meisten Gründungen finden hier jedoch im 18. Jahrhundert statt. Zwischen 1670 und dem Ende des 18. Jahrhunderts sind allein in Preußen 35 Gründungen nachweisbar. Genannt werden können hier Halle, Frankfurt/Oder, Stettin, Berlin u. a. Das Militärwaisenhaus genannte Arbeitshaus in Potsdam soll zeitweilig ca. 2000 Zöglinge aufgenommen haben.
Aufgenommen und zur Arbeit diszipliniert wurden alle Randgruppen der damaligen Gesellschaft: arbeitsscheue Bettler, verurteilte Verbrecher, aufsässige Kinder, gebrechliche Alte, verarmte Witwen, Invaliden, Waisenkinder, Prostituierte, Wahnsinnige etc.
Die Gründung der Zucht- und Arbeitshäuser erfolgte überwiegend zur armenpolizeilichen Bettelbekämpfung als auch aus merkantilistischen Wirtschaftsüberlegungen, um möglichst viel Produktivkräfte am Arbeitsprozeß zu beteiligen.
In zeitgenössichen Vorstellungen wurden die Zucht- und Arbeitshäuser als "'Ei des Kolumbus" angesehen: soziale und wirtschaftliche Probleme der Zeit sollten gewissermaßen unter einem Dach bearbeitet werden. Das integrierende Element war die Arbeit. Arbeit wurde angesehen als unfehlbares Universalmittel, wenn es darum geht, irgendeine Form des Elends zu beseitigen. Bürgerliche Werte wurden zum Allheilmittel - ja zum Naturzustand der Gesellschaft - erklärt. Immerhin hatte man die Beseitigung von Elend im Auge.
Ein besonderes Problem der Zucht- und Arbeitshäuser dieser Zeit war jedoch die Finanzierung. Zum einen schienen die Ansprüche der Disziplinierung, Pädagogisierung und gleichzeitig der produktiven Verwendung der Arbeitskraft der Insassen als attraktiv. Jedoch waren diese Einrichtungen nicht in der Lage, aus eigenem Wirtschaften zu existieren. Steuererleichterungen, Spenden, Stiftungen u. ä. mußten als Zuschüsse hinzugezogen werden, um eine einigermaßen funktionierende Tätigkeit zu erreichen. Bereits damals gab es das Problem, daß pädagogische und ausbilderische Ansprüche dem Zwang zur Wirtschaftlichkeit untergeordnet wurden.
Wenn auch Prügelstrafen und sonstige "wilde" Disziplinierung zum normalen pädagogischen Selbstverständnis dieser Zeit gehörten, wurde aufgrund der schlecht erreichbaren ökonomischen Zielsetzung am pädagogischen Personal gespart. Obwohl in einigen Zucht- und Arbeitshäusern handwerkliche Fertigkeiten vermittelt wurden, war es ein Problem dieser Zeit, daß sich Zünfte und Manufakturunternehmer gegen die Aufnahme von ehemaligen Anstaltsinsassen sperrten.
An dieser Stelle möchte ich den geschichtlichen Rückblick schließen. Ich könnte noch die weitere Entwicklung des Industrialismus und deren soziale Frage schildern, ich möchte jedoch annehmen, daß dies weitergehend bekannt ist. Interessant wäre es, die geschilderte Situation mit der heutigen Lage zu vergleichen. Die auffallenden Analogien legen die Vermutung nahe, daß wir uns heute in vielen Dingen und Zielsetzungen noch im 18. Jahrhundert befinden.
Insbesondere die Integrationsbetriebe, die heute desintegrierte Menschen unserer Zeit beschäftigen, haben mit sehr ähnlichen Problemen zu tun. Die Zielrichtungen haben sich nach meiner Einschätzung seit der beschriebenen Zeit nicht geändert, wenn man Aussagen von Politikern, aber auch Einschätzungen der Bevölkerung sowie teilweise Aussagen des Stammpersonals in Integrationsbetrieben wahrnimmt. Die öffentliche Meinung scheint heute in dieser Frage im 18. Jahrhundert zu verharren.
Sind die Integrationsbetriebe und Unternehmen des zweiten Arbeitsmarkts direkte Nachfolger der Zucht- und Arbeitshäuser der merkantilistischen Zeit mit dem einzigen Unterschied, daß Prügelstrafen abgeschafft sind und statt dessen subtilere Methoden angewendet werden?
Von: Jürgen Limburger, Diplom-Sozialpädagoge (FH) Neuwied,
http://www.koblenz.de/kultur/tagebuch/11/juerg0.htm