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Richter wollen keine Anklagen gegen Schwarzfahrer mehr

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Berliner Jugendrichter kommen mit ihrer Arbeit kaum hinterher – weil sie sich um angeklagte Schwarzfahrer kümmern müssen. Nach Schätzungen der Neuköllner Jugendrichterin Dietlind Biesterfeld beziehen sich etwa 25 bis 30 Prozent aller Gerichtsverfahren gegen Erwachsene auf Leistungserschleichung, im Jugendrecht seien es 15 bis 20 Prozent.

„Das ist ein unglaublicher Personalaufwand. Die Bürger fassen sich doch an den Kopf, womit sich Richter beschäftigen müssen“, sagte die langjährige Richterin auf einer Veranstaltung mit Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD). An manchen Tagen habe sie „sieben oder acht Fälle hintereinander“. Damit die Justiz nicht weiter von den Schwarzfahrer-Fällen blockiert wird, fordert sie „eine politische Lösung“.

Ähnliche Klagen hört man auch von dem für Marzahn-Hellersdorf zuständigen Richter Stephan Kuperion. „Das macht unglaublich viel Arbeit“, sagt er. Bei dem Delikt mit den größten Zuwachsraten – Betrug im Internet – komme man deswegen schon „nicht mehr hinterher“. Dietlind Biesterfeld schlug vor, Schwarzfahren nur noch als Ordnungswidrigkeit zu behandeln oder Hartz-IV-Empfänger gratis fahren zu lassen. Dies würde in der Justiz „unglaubliche Kräfte freisetzen“.

Von der Aue sagte zu, sich des Problems annehmen zu wollen. „Ich werde prüfen lassen, welche Möglichkeiten es gibt, die Justiz zu entlasten.“ Möglich sei zum Beispiel, das Delikt von Rechtspflegern bearbeiten zu lassen und nicht von Richtern. „Das könnte Spielräume schaffen“, sagte von der Aue. Die Strafbarkeit des Schwarzfahrens aufzuheben, sei zwar theoretisch möglich, aber in der Gesellschaft wohl nicht zu vermitteln. Die Jugendrichter halten dagegen, dass Schwarzfahren und Falschparken „vom Unrechtsgehalt ähnlich“ seien, aber völlig unterschiedlich behandelt würden.

Der Deutsche Richterbund reagierte gestern skeptisch auf den Vorschlag der Entkriminalisierung. Das Präsidiumsmitglied Stefan Caspari sprach von einer „Kapitulation“ der Justiz. Schon früher sei über eine Entkriminalisierung von Delikten wie Ladendiebstahl oder Schwarzfahren diskutiert worden. Aber auch Caspari sagte, dass Schwarzfahrer „eine Menge Arbeitskraft binden“.

Der grüne Rechtsexperte Benedikt Lux forderte die Staatsanwaltschaft auf, bei Schwarzfahrern die Augen zuzudrücken und die Verfahren einzustellen. „Es gibt kein öffentliches Interesse an der Verfolgung von Schwarzfahrern“, sagte der Strafverteidiger. Zudem schlug Lux vor, dass die Justiz mit der BVG verhandeln solle, nicht mehr alle Fälle anzuzeigen.

Im vergangenen Jahr hat die Polizei insgesamt 12 000 Strafanzeigen wegen „Erschleichens von Leistungen“ registriert – das sind 35 Prozent weniger als 2009. Dieser Rückgang um 6500 Anzeigen beruhte allerdings auf einer technischen Panne bei der BVG. Wie berichtet, konnte die BVG von Januar bis August 2010 die bei Kontrollen erfassten Daten nicht ins System übernehmen und deshalb keine Anzeigen erstatten, heißt es in der aktuellen Kriminalstatistik der Polizei. In den Vorjahren waren es etwa 18 000 Anzeigen, 12 000 kamen von der BVG, 6000 von der S-Bahn.

Die BVG betonte gestern, dass „nur chronische Schwarzfahrer“ angezeigt werden – in der Regel, wer dreimal erwischt wird und nicht zahlt. Aufgrund von Hochrechnungen nach Kontrollen geht die BVG pro Jahr von rund 30 Millionen Schwarzfahrern aus, die Schwarzfahrerquote beträgt demnach 3,5 Prozent. Die Drohung mit einer Anzeige sei zur Abschreckung sinnvoll.  „Wer keinen gültigen Fahrausweis vorzeigen kann, muss ein erhöhtes Beförderungsentgelt in Höhe von 40 Euro zahlen und mit strafrechtlichen Folgen rechnen“, warnt die BVG im Internet und auf Bahnhöfen.

Schwarzfahrer füllen auch Gefängnisse. Wer seine Strafe nicht bezahlen kann oder will, wird zu einer „Ersatzfreiheitsstrafe“ verurteilt. In der JVA Plötzensee sind unter den knapp 500 Gefangenen bis zu einem Drittel Schwarzfahrer. Das kostet den Steuerzahler etwa 80 Euro pro Tag und Gefangenen. 2008 waren 8511 Menschen in Berlin verurteilt worden wegen Beförderungserschleichung. Der Großteil – nämlich 7700 – kam mit einer Geldstrafe davon. Es wurden aber auch 480 Haftstrafen verhängt. Im ersten Quartal 2011 waren es 3309 Verfahren.

Quelle: tagesspiegel vom 08.06.11

 

Dazu ein Kommentar aus Berlin:

Am 1. April 2004 wurde das Arbeitslosenticket der BVG mit Rücksprache des Aufsichtsratvorsitzenden Sarrazin, und dem Senator für Verkehr, Strieder, abgeschafft.

Auf dieses Ticket waren rund 80.000 Fahrgäste angewiesen. Gleichzeitig erhöhten sich die Fahrpreise um rund 150%. Außerdem ist es mittlerweile so, dass man einen Einzelfahrschein nur in eine Richtung benutzen darf, was die Fahrkosten für kurze Benutzungen verdoppelte. Rundfahrten sind mittlerweile verboten.

Zum selben Zeitpunkt erhöhte die BVG Vorstandsriege ihre Bezüge von ca. 200.000 € auf nochmals ca. 10 %. Der Senatszuschuss den die BVG bezieht (ca. 17 Mio.) geht fast vollständig in die Gunsten der BVG-Manager und Teilprivatisierungen sowie für so genannte Berater-Vertrage mit Privat- und diversen Sicherheitsfirmen.

Das gestrichene Geld für die Sozial und Arbeitslosentickets wurde für die Installation der Überwachungskameras investiert und an private Beraterfirmen verschoben, die weiteren elektronischen Firlefanz wie den kostenpflichtigen SMS-Abrufservice eingeführt haben.

Nebenbei wird das alles vom Personalrat gebilligt, anstatt sich um den Lohnraub und den zahlreichen Massenentlassungen zu kümmern.

Was lernen wir daraus?

Es ist verständlich das finanziell ärmer gestellte Menschen sich die Fahrt mit der BVG mittlerweile nur schwer leisten können. Argumentationen wie: "Die vielen Schwarzfahrer und Ticketschwarzverkäufe in Bezirken wie Kreuzberg sind schuld an den hohen Ticketpreisen" sind soweit nicht nachvollziehbar, da andersrum dieser Trend aus der "Nichtbezahlbarkeit" der Fahrtkosten her rühren.

In einen anderen Artikel des Tagesspiegels ist als Hauptargument für den Angriff auf Busfahrer die Ticketpreise genannt. Das aber die Busfahrer ebenfalls unter der Misswirtschaft bzw. koruptionsverdächtigen Handeln der Vorstände leiden wird leider nicht berücksichtigt.


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