Verfassungsrichter S.Bross: Wir haben ein massives Verteilungsproblem!
Ein lesenswertes Interview aus der Stuttgarter Zeitung vom 6.10.03 mit dem CSU-Richter am BVErfG Bross.
Auf den Punkt gebracht hat die zentrale Frage nach dem Bezug von Freiheit und Verantwortung hierzulande der Richter am Bundesverfassungsgericht Siegfried Bross in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung am 6.10.03:
Bürger mit einem höheren Einkommen haben nach seiner Ansicht auch als Steuerzahler eine gesteigerte Verantwortung für die Allgemeinheit und das Staatswesen. Er könne nicht einsehen, dass gegenwärtig "vor allem die Gruppen mit geringeren Einkommen" zur Steuer herangezogen werden; die Diskussion, dass die Steuerlastquote in Deutschland allgemein zu hoch sei, bereite ihm große Sorgen.
Bross vertrat die Meinung, dass der Wohlstand nur gewährleistet werden könne, "weil wir eine friedliche Gesellschaft haben, ohne Gegensätze, die das friedliche Zusammenleben in Frage stellen".
Auch die Wohlhabenden profitierten vom hohen Bildungsstand und von der Ordnung des Staatswesens. Das koste Geld und müsse finanziert werden. Bross bezeichnete es als ein Versagen der Öffentlichkeitsarbeit des Staates, diese Zusammenhänge nicht deutlich zu machen. Nach Ansicht von Bross ist es mit der "Allgemeinverantwortung in einem
Sozialstaat" nicht vereinbar, wenn Unternehmen mit steigenden Umsätzen und Gewinnmargen Personal abbauen. Er warb dafür, die Gehälter von Managern an das Bemühen zu koppeln, neue Arbeitsplätze zu schaffen: "Tausende von Leuten rauszuwerfen ist keine Leistung."
Die meisten Arbeitslosen, so Bross, seien arbeitswillig. Angesichts von mehr als vier Millionen Erwerbslosen halte er einen Teil der gegenwärtig geführten Diskussion "für nicht mehr akzeptabel."
Bross forderte, den Wettbewerb durch Gesetze in angemessenen Bahnen zu halten. Ein ungezügelter Wettbewerb gefährde jedes Staatswesen in seinem Bestand; er könne sich nur dank eines geordneten Staatswesens entwickeln, mache aber, "wenn er sich nur lange genug ungehemmt entwickelt, selbst die Grundlage für seinen Erfolg kaputt. Es gibt dann nicht einmal mehr Anarchie, nur Strukturen, die mit einem Staatswesen nichts mehr zu tun haben."
Dies gelte auch im internationalen Maßstab: "Geordnete und zivilisierte Staaten sind die Grundlage des Weltfriedens." Wenn man die internationalen Wirtschaftsbeziehungen allein dem Wettbewerb überlasse, "werden die Länder schwach und verlieren an Substanz". Die Folge seien kriegerische Auseinandersetzungen, wie man sie nicht nur in Afrika beobachten könne: "Die Bevölkerung leidet. Dort sind aber auch keine Märkte mehr für die , "Global Player". Auch die seien auf geordnete Staatswesen angewiesen: "Diesen Widerspruch sehe ich bis heute noch nicht aufgehoben."
Das Bross “Interview im vollen Wortlaut, Stuttgarter Zeitung v. 6.10.2003, S. 12:
"Wer stark ist, muss nicht ständig seine Ellbogen einsetzen"
Bundesverfassungsrichter Professor Siegfried Bross äußert sich zum Sozialstaat, zum Wettbewerb, zum Eigentum und zu den Bezügen von Vorstandsmitgliedern.
Der Sozialstaat ist in die Kritik geraten. Das Grundgesetz aber garantiert ihn den Bürgern der Bundesrepublik. Wo die Grenzen des Sozialstaats heute liegen, darüber entscheidet am Ende auch das Bundesverfassungsgericht. Mit Verfassungsrichter Siegfried Bross sprach Stefan Geiger.
**Herr Bross, das Grundgesetz sagt, die Bundesrepublik sei ein sozialer Staat. Was sind heute die Mindeststandards dafür?**
Zum Sozialstaat Deutschland gehört nicht nur eine angemessene Versorgung im Krankheitsfall. Zum Sozialstaat gehören auch die Sorge für Familien, für Kinder, für Eltern, ein angemessenes Schul- und Hochschulwesen. Kurzum:
Rahmenbedingungen, die es dem Einzelnen erlauben, sein Leben eigenverantwortlich, fern der Mentalität einer Ellbogengesellschaft zu gestalten.
*Stichwort Ellbogen: Wie weit hat der Tüchtige, Durchsetzungsfähige und deshalb Erfolgreiche noch Rücksicht zu nehmen auf den Schwächeren, den Langsameren, vielleicht auch Dümmeren?*
Für viele persönliche Eigenschaften kann der Einzelne nichts, sie sind ihm mitgegeben. Andererseits profitiert auch der Tüchtige vom Sozialstaat. Deshalb trägt er Verantwortung für die Allgemeinheit und für den Bestand der Rahmenbedingungen, die für den Sozialstaat Voraussetzung sind. Ich rede nicht einer allgemeinen Gleichmacherei das Wort, aber mir liegt daran, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass ein demokratisches Staatswesen nur existieren kann, wenn es von der Gesellschaft getragen wird. Das setzt gegenseitige Rücksichtnahme aller voraus. Ohne diesen gesellschaftlichen Konsens ist jeder Staat gefährdet.
**Was soll der Sozialstaat machen, wenn ihm die Starken davonlaufen, zum Wohnen in die Schweiz oder in Billiglohnländer, wo sie die Fabriken aufmachen, die sie bei uns zumachen?**
Es gibt hierfür keine Patentrezepte. Allerdings halte ich es für unabdingbar, dass die Rahmenbedingungen überprüft werden. Es fehlt eine Ursachenforschung, warum es in den letzten Jahren zu diesen Entwicklungen in so großem Umfang gekommen ist. Die Schweiz als Steueroase und die Billiglohnländer hat es schon vor Jahrzehnten gegeben. Und die Globalisierung, die immer wieder als Argument herhalten muss, gibt es auch schon lange. Vor 1914 war die Welt durch die koloniale Gestaltung geprägt. Damals wurden die Kolonien ausgebeutet; aber es war im Kern auch eine Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen. Wenn ich heute zum Beispiel sehe, dass ein deutsches Weltunternehmen bei der Handelskammer gerade den Mindestbeitrag bezahlt, dann muss ich sagen, da stimmt etwas nicht. Da würde ich mich als Unternehmensführer schämen.
**Die Menschen haben sich offensichtlich geändert. Wie lange lässt sich ein Sozialstaat erhalten, wenn immer mehr starke Bürger ihn für nicht mehr wichtig halten?**
Mir macht in diesem Zusammenhang die Diskussion große Sorge, dass die Steuerlastquote in Deutschland allgemein zu hoch sei. Menschen mit geringen Einkommen müssen ihre Sozialabgaben zahlen, für das Alter vorsorgen. Das meiste vom Rest benötigen sie für die Miete und das Leben. Die können nicht viel Steuern zahlen für die Allgemeinheit und für all die Einrichtungen, von denen wir gesprochen haben und von denen wir alle, auch die Gutverdienenden, profitieren. Als Schwabe werde ich da heftig und giftig. Ich selbst beziehe jetzt ein Spitzeneinkommen im Öffentlichen Dienst, und ich könnte mehr an Steuern bezahlen als die 35 oder 40 Prozent, die ich zahle. Das würde ja nur belegen, was man für ein enormes Einkommen bezieht. Es ist ein Versagen der Öffentlichkeitsarbeit des Staates, wenn nicht energisch genug darauf hingewiesen wird, dass der Wohlstand, von dem viele profitieren, nur gewährleistet werden kann, weil wir eine friedliche Gesellschaft haben, ohne Gegensätze, die das friedliche Zusammenleben in Frage stellen. Wir alle profitieren von dem hohen Bildungsstand und von der Ordnung dieses Staatswesens. Und das kostet Geld; das muss auch finanziert werden. Dass man jetzt dazu vor allem die Gruppen mit geringeren Einkommen heranzieht, denen über dem Existenzminimum wenig bleibt, das vermag ich nicht einzusehen. Der Tüchtige mit einem höheren Einkommen hat auch eine gesteigerte Verantwortung für die Allgemeinheit, für das Staatswesen.
Das Grundgesetz sagt, Eigentum verpflichtet. Zu was verpflichtet Eigentum?
Ich kann mich an meinem Eigentum und an der Tatsache, dass ich es weit gehend ungestört nutze, nur erfreuen, wenn ich in einem geordneten Staatswesen mit einer friedlichen Gesellschaft lebe. Nach meinem vielleicht altmodischen Verständnis führt das zu der nahe liegenden Schlussfolgerung, dass ich nicht ständig meine Ellbogen einsetzen kann. Das heißt natürlich nicht, dass ich die Allgemeinheit bis zu meiner völligen Verausgabung und unter Hintanstellung meiner persönlichen Interessen gleichsam beglücken muss. Aber man muss mit seinem Eigentum doch vernünftig und angemessen umgehen. Wenn zum Beispiel ein akuter Mangel an Wohnraum oder auch Gewerberaum besteht, dann halte ich es für angemessen, dass der Eigentümer den Mietzins nicht bis zur gesetzlichen Obergrenze ausreizt, sondern überlegt, was er realistischerweise erwarten darf. Dann würden in den Großstädten auch nicht die Fachgeschäfte des Einzelhandels verschwinden, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen können. So könnte man beispielsweise auch verhindern, dass die Prachtstraßen einer Stadt ein Erscheinungsbild bekommen, das wir alle so sicher nicht wollen. Das ist für mich ein Beispiel, wozu Eigentum verpflichtet.
**Welches Bild vom Eigentum hat das Grundgesetz? Ist der Eigentümer, der als Chef mitten in seinem Unternehmen steht, alle Mitarbeiter kennt, gleich zu behandeln wie der Eigentümer, den mit dem Unternehmen, von dem er einige Bruchteile besitzt, nicht mehr verbindet als ein Stück Papier namens Aktie?**
Eine Aktiengesellschaft ist darauf angelegt, dass die sehr persönliche Verbindung eines Unternehmers zu seinem Unternehmen aufgehoben ist. Die Aktiengesellschaft hat ihre Berechtigung wegen der Kapitalbeschaffung und vieler anderer Dinge mehr. Und es gibt natürlich Beispiele, dass auch der Einzelunternehmer nicht immer erfolgreich handelt. Eine Aktiengesellschaft sollte in der Lage sein, sich die besten Lenker für ihr Unternehmen auszusuchen und ihnen die Geschicke anzuvertrauen. Der Aufsichtsrat hat darüber zu wachen. Ob diese Art der Kontrolle tatsächlich immer so wirksam ist, daran kann man inzwischen angesichts der enormen Fehlkalkulationen auch bei Weltunternehmen seine Zweifel haben. Wenn deshalb Tausende von Arbeitnehmern entlassen werden, dann ist das furchtbar. Wo sind denn in diesen Fällen die unternehmerischen Leistungen, die die hohen Vorstandsgehälter rechtfertigen könnten? Auch die Rolle der Unternehmensberatung ist noch nicht richtig geprüft worden. Wenn die kommen, steht immer im Zentrum, Stellen abzubauen. Dazu brauche ich keine Unternehmensberatung. Das kann Ihnen auch der Pförtner sagen: Wenn ich tausend Leute rauswerfe, spare ich so viel an der Lohnsumme. Und die anderen müssen mehr arbeiten. Warum koppelt man nicht die Gehälter der Spitzenleute daran, wie viel Arbeitsplätze sie schaffen? Das wäre doch auch eine Leistung. Tausende von Leuten rauszuwerfen, ist keine Leistung.
**Was macht die Würde eines Menschen aus?**
Die Würde eines Menschen hat viele Ausprägungen; wir können das sicher nicht im Rahmen dieses Gesprächs abschließend umschreiben. Aber einige der für mich unabdingbaren Seiten möchte ich doch ansprechen: Zur Würde des Menschen gehört, dass er sich selbstbestimmt entfalten kann - natürlich innerhalb der Regeln, die das Staatswesen für die Ordnung unter den Menschen und für das Verhältnis zwischen den Menschen und dem Staat gesetzt hat. Die Voraussetzungen dafür sind das Sozialstaatsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip.
**Ist es dann mit ihrer Würde vereinbar, wenn Menschen, die arbeiten können und arbeiten wollen, auf Dauer keine Arbeit bekommen?**
Ich halte den Staat für verpflichtet, alle ihm möglichen Anstrengungen zu unternehmen, um Arbeitsplätze zu schaffen. Angesichts der aktuellen Arbeitslosigkeit kann es keinen Zweifel daran geben, dass die meisten Menschen, die keine Arbeit haben, arbeitswillig sind. Das mag in den sechziger Jahren anders gewesen sein, als wir nur eine so genannte Sockelarbeitslosigkeit hatten. Damals waren auch viele nicht so Arbeitswillige dabei. Aber das, was man gegenwärtig in der öffentlichen Diskussion zum Teil hört, ist angesichts von mehr als vier Millionen Arbeitslosen nicht mehr akzeptabel.
**Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach entschieden, es sei mit der Würde des Menschen unvereinbar, wenn der Staat ihn zum bloßen Objekt seines Handelns macht. Gilt das auch für das Handeln der Wirtschaftsführer?**
Wir haben in Deutschland durch die betriebliche Mitbestimmung und manche andere Einrichtungen Vorkehrungen getroffen, dass die Interessen der einzelnen Arbeitnehmer in einem Unternehmen sachgerecht vertreten werden. Dahinter steht natürlich die Erkenntnis, dass das einzelne Individuum zu schwach ist und zu wenig Einflussmöglichkeiten hat. Ich bin ein Freund dessen, was wir hier erreicht haben. Natürlich kann man sich im Einzelnen darüber unterhalten, ob es nicht noch ein bisschen besser geregelt werden soll. Es gibt Schattenseiten auch bei den Gewerkschaften. Und ich anerkenne, dass es Unternehmer gibt, die sich ihrer Verantwortung sehr wohl bewusst sind und die auch in schlechten Zeiten den Personalstand nicht abbauen, ihrer Ausbildungsverpflichtung nachkommen und so jungen Menschen eine Perspektive eröffnen. Diese Beispiele zeigen mir, dass es auch anders geht. Ich verkenne auch nicht, dass es Branchen gibt, die mangels Aufträgen keine Spielräume mehr haben. Solche Unternehmen müssen schließen. Nur: wenn bei anderen Unternehmen die Umsätze und die Gewinnmargen steigen und trotzdem Personal abgebaut wird, dann meine ich, dass das mit der Allgemeinverantwortung in einem Sozialstaat nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen ist.
**Sie haben sich für eine Fondslösung ausgesprochen, mit der die private Altersvorsorge neben der gesetzlichen Rente gesichert werden könnte. Weshalb?**
Mich bewegt schon seit zehn Jahren der Gedanke, dass die Renten entgegen den fortwährenden Beteuerungen nicht sicher sind. Aber es genügt eben nicht, wenn der Staat jetzt plötzlich an den einzelnen Bürger appelliert, er müsse etwas tun, und ihn dann wieder sich selbst überlässt. Der Staat muss die Rahmenbedingungen schaffen. Er muss dafür Sorge tragen, dass es in Deutschland möglich ist, langfristig sichere Anlageformen zu wählen. Da ist die Aktie, wie wir jetzt mit dem Niedergang der New Economy gesehen haben, nicht die beste Empfehlung. Das hat bei mir die Überlegung reifen lassen, dass der Staat die Anlageobjekte unabhängig vom Markt zur Verfügung stellen könnte, sie aber dem Wettbewerb trotzdem öffnet: Der Betrieb unterliegt dem Wettbewerb, die Substanz bleibt in Staatshand. Das stellt auch sicher, dass der Staat nicht erpressbar wird. Dafür bieten sich jene staatlichen Einrichtungen an, die der Daseinsvorsorge dienen, beispielsweise Bahn, Straßen, Anlagen für Be- und Entwässerung. Die würden ihren Betrieb dem Wettbewerb öffnen, aber die gesamte Substanz bliebe in Staatshand. Man würde Anteile bilden ähnlich einer Genossenschaft. Das wären sichere Anlageformen für Bürger, die für ihr Alter vorsorgen wollen.
Ist der Wettbewerb nicht das viel bessere Regulativ, um den Wohlstand einer Gesellschaft zu mehren?
Ich bin kein Gegner des Wettbewerbs. Das Problem ist nur, wie kann ich den Wettbewerb angemessen in Bahnen halten, ohne dass ich überreguliere und ohne dass ich einen überbordenden Überwachungsapparat installiere. Wenn die Menschen in einem Wettbewerb ohne Rahmenbedingungen nur noch dem Gewinn nachstreben, dann endet das letztlich in Rücksichtslosigkeit. Das hat dann mit dem Sozialstaatsprinzip nichts mehr gemein. Dem muss man gegensteuern; das geschieht durch entsprechende gesetzliche Regeln.
Die Verfechter des Wettbewerbs sagen, wer in diesem Wettlauf nicht alles versucht, um die Nase vorne zu haben, der geht unter - als Einzelner, als Firma, als Staat. Deshalb habe auch niemand mehr die Freiheit, sich dem Wettbewerb zu entziehen. Man müsse den billigsten Arbeiter nehmen, dort produzieren, wo die Kosten am niedrigsten sind, jene Staaten meiden, in denen soziale Gesetze den Wettbewerb behindern. Da helfe kein Grundgesetz.
Das ist genau die Auffassung, die ich rundweg ablehne. Ein derartiger Wettbewerb gefährdet jedes Staatswesen letztlich in seinem Bestand. Die Gesellschaft bricht in zwei oder mehr Teile auseinander. Der Wohlstand wird völlig ungleichmäßig verteilt. Letztlich werden dem Staat seine finanziellen Grundlagen entzogen. Der Wettbewerb ist nicht ein Wert an sich. Wenn er so verstanden wird, dann gedeiht er zunächst dank eines geordneten Staatswesen.
Aber er macht, wenn er sich nur lange genug ungehemmt entwickelt, selbst die Grundlage für seinen Erfolg kaputt. Es gibt dann nicht einmal mehr Anarchie, nur noch Strukturen, die mit einem Staatswesen nichts mehr zu tun haben.
**Die Bedeutung der einzelnen Staaten nimmt ab. Zum einen, weil die Wirtschaft sagt, sie kann es besser. Zum andern auch, weil die Bedeutung Europas wächst. Was kann man tun?**
Größe an sich ist weder für ein Unternehmen ein Überlebensgarant noch für ein Staatswesen. Große Einheiten haben Schwierigkeiten, schnell und gezielt zu reagieren. Ein Supertanker hat einen langen Bremsweg; ein kleines Boot kann Haken schlagen. Eine Staatenverbindung wie die Europäische Union ist für sich auch noch kein Garant für eine wirtschaftliche Macht. Man muss sich die Rahmenbedingungen, im Privatleben würde man sagen: die Geschäftsgrundlage, genau anschauen. Wir haben es in Europa ja nicht zu tun mit identischen oder weit gehend homogenen Staatswesen. Jeder Staat hat seine eigene Geschichte von tausend Jahren und mehr, er hat seine eigenen Traditionen und sein eigenes Bewusstsein. Das Individuelle, das Besondere, die Einzigartigkeit eines jeden Menschen gehören mit zur Menschenwürde. Genau so ist es auch bei den Staaten, eben als Zusammenfassung der dort lebenden Menschen. Bei dem Prozess der europäischen Einigung ist viel zu kurz gekommen, dass die Staaten ganz unterschiedliche gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen haben. Das Arbeitsrecht divergiert, die Sozialsysteme sind weit von einander entfernt, die Löhne klaffen auseinander. Deshalb habe ich mich schon seit geraumer Zeit für eine stufenweise Verwirklichung der europäischen Einheit ausgesprochen. Wir sehen ja schmerzlich in unserem eigenen Land, wie weit wir jetzt, etwa 13 Jahre nach der offiziellen Einheit, von einer echten Vereinigung im Innern entfernt sind.
**Europa ist groß, die Welt ist noch größer. Wie geht Deutschland mit der Welt der "Global Player" um, die sich keiner Gesellschaft verpflichtet fühlen, für die das Wort Vaterland ein Fremdwort ist?**
Wir haben Instrumente wie die Welthandelsorganisation entwickelt, um die internationalen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu regeln. Es gibt inzwischen eine sehr wirksame Schiedsgerichtsbarkeit. In vielen Staaten hat sich also die Erkenntnis herausgebildet, dass es ohne Regeln und vor allen Dingen ohne ein Rechtsschutzsystem nicht geht. Sachgerechte und angemessene Bedingungen für die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sind eine der Grundvoraussetzung für den Weltfrieden. Auch hier gilt: Wenn ich alles dem Wettbewerb überlasse und dieser sich letztlich ungezügelt entfalten kann, würde das eintreten, was ich zuvor im Kleineren geschildert habe. Die Länder werden schwach und verlieren an Substanz. Geordnete und zivilisierte Staaten sind aber die Grundlage für den Weltfrieden. Das wiederum setzt - wie beim Sozialstaat - voraus, dass sich friedvolle, ausgeglichene Gesellschaften bilden und erhalten. Es gibt genügend Beispiele, nicht nur in Afrika, wo es an diesen Grundlagen fehlt. Dort haben wir dann auch häufig, manchmal über Jahrzehnte hinweg, kriegerische Auseinandersetzungen. Die Bevölkerung leidet. Dort sind aber auch keine Märkte mehr für die "Global Player", weil die sich hüten, dort zu investieren. Auch der "Global Player" muss auf ein geordnetes Staatswesen stoßen. Sonst werden seine Investitionen in Frage gestellt, die in die Zukunft gerichtet sind. Diesen Widerspruch sehe ich bis heute noch nicht aufgehoben.