114 Jahre deutsche Rente
Ein geschichtlicher Abriss von Bismarck bis Ulla Schmidt. Wenig kritisch, aber doch interessant und aufschlussreich. --- Leicht gekürzt, aus Quelle: t-online / Renten-Special / BMC / 18.10.03
... Als erstes Land der Welt führte Deutschland 1889 eine offizielle Versicherung gegen Invalidität für Arbeiter ein. Schon bald wurde sie zu einer umfassenden Rentenversicherung ausgebaut, die praktisch alle abhängig Beschäftigten im Alter und bei Arbeitsunfähigkeit und ihre Hinterbliebenen nach ihrem Tod absichert. Das Rentensystem stellte ein verlässliches Einkommen im Alter zur Verfügung und wurde vielen Ländern zum Vorbild.
Angst vor sozialen Unruhen
"Der wichtigste Grund für die Einführung war für Reichskanzler Otto von Bismarck die Angst vor sozialen Unruhen", schreibt Axel Börsch-Supan, Direktor des Mannheimer Forschungsinstituts Ökonomie und Demografischer Wandel und Mitglied der Rürup-Kommission in einem Aufsatz für das Deutsche Institut für Altersvorsorge . In einem geschickten Schachzug sei Bismarck Forderungen der sozialdemokratischen Bewegung zuvorgekommen, indem er ein umfassendes Sozialversicherungssystem schuf, ....
Es hat, wenn auch mit deutlichen Modifikationen, beide Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise und die deutsche Wiedervereinigung überstanden. ... Noch heute stammen rund 85 Prozent der finanziellen Vorsorge für das Alter aus der gesetzlichen Rentenversicherung. ... Eigenvorsorge ... sowie die betriebliche Altersvorsorge führen ein Schattendasein. Von einem "Drei-Säulen-System" kann daher nicht die Rede sein. ...
Schutz vor existenziellen Notlagen
Vor über hundert Jahren schien eine Initiative des Staates geboten. Viele Menschen in Deutschland litten Not. Wer alt oder krank war, konnte im Wettbewerb nicht mehr mithalten. Mittel und Möglichkeiten zur privaten Vorsorge waren noch beschränkt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebte am Rande des Existenzminimums. Bismarcks Sozialgesetzgebung zielte darauf ab, die Arbeiterschaft vor solchen existenziellen Notlagen zu schützen. Dahinter stand auch die Erkenntnis, dass es der freien Entfaltung der Kräfte förderlich sein kann, wenn der Einzelne die Gewissheit auf ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit hat, ihn also auch eine unternehmerische Fehlentscheidung nicht gleich ins Elend wirft. ...
Keine Arbeit - keine Rente
Von Anfang an war die zugrunde liegende Philosophie, dass für die Finanzierung der Renten neben den Arbeitnehmern auch die Arbeitgeber und der Staat verantwortlich sind. Diese kollektive Verantwortung ist typisch für die deutsche Sozialpolitik. Ein weiteres Merkmal ist die starke Kopplung der Renten an die Beschäftigung. Im Gegensatz zu Staaten wie Großbritannien oder den Niederlanden, die jedem Bürger eine feste Grundrente garantieren, war das deutsche System von Anfang an so gestaltet, dass es den aus dem Erwerbsleben gewohnten Lebensstandard auch im Alter sichert. Menschen, die nie offiziell gearbeitet haben, bleibt entsprechend der Anspruch auf eine gesetzliche Rente versagt und sind auf die Sozialhilfe angewiesen.
Getrennte Kassen
Im Gegensatz zum amerikanischen System ist die Rentenversicherung in Deutschland nicht Teil des Bundeshaushaltes, sondern verfügt über eine eigene getrennte Kasse. Etwa 70 Prozent des Budgets wird über die Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanziert. Der Staat finanziert über Steuern die restlichen 30 Prozent. Zudem bestimmt der Staat die Regeln, nach denen das System funktioniert, und legt die Höhe von Beiträgen und Rentenansprüchen fest.
[Kapitaldeckungsverfahren bis 1957]
Die gesetzliche Rentenversicherung funktionierte ursprünglich nach dem Kapitaldeckungsverfahren. Durch die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg wurde der Kapitalstock jedoch erheblich reduziert. Nach einer langen, zähen Debatte und gegen den Widerstand von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard entschied sich der Bundestag 1957 für eine grundsätzliche Reform, in der die Rentenversicherung schrittweise in ein Umlageverfahren übergehen sollte.
Umlage bis 2002
Der verbleibende Kapitalstock war bis 1967 aufgezehrt. Bis 2002 war die deutsche Rentenversicherung ausschließlich umlagefinanziert und verfügt derzeit nur über eine kleine Reserve, die für die Rentenausgaben von 30 Tagen reicht. Mit der Einführung der so genannten Riester-Rente ist nun ein erster kleiner Schritt zurück zu einem mit Kapital gedeckten Rentensystem getan.
[Bruttolohnbezug der Rente]
Nach 1957 und vor allem in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden die Renten stark erhöht. ... Bemerkenswert ist für Börsch-Supan, dass in der Reform von 1957 die Rente an den Bruttolohn gekoppelt und in der zweiten wichtigen Reform 1972 die Möglichkeit zur Frühverrentung gewährt wurde.
Trend zur Frührente [und Massenarbeitslosigkeit]
Der Ausbau des Rentensystem trieb die Beiträge immer weiter in die Höhe. Noch 1965 lagen sie bei 14 Prozent des Bruttolohns. Heute sind es 19,5 Prozent. Der Grund: Das Rentenniveau wurde erhöht, während der gesparte Kapitalstock zur Neige ging. Weiter sank die Erwerbsbeteiligung der älteren Menschen dramatisch. Arbeiteten 1970 noch 75 Prozent der Männer im Alter von 60 bis 64 Jahren, waren es 1995 nur noch 33 Prozent. Aktuell liegt das durchschnittliche Renteneintrittsalter bei 60 Jahren. In vielen der Unternehmen sind überhaupt keine Menschen über 60 Jahren mehr beschäftigt. Schließlich sorgte die steigende Arbeitslosigkeit ab 1980 für eine schrumpfende Zahl an Beitragszahlern.
Erste Rentenkürzung im Jahr 1992 [Nettolohnbezug / Abschläge bei Frühverrentung]
... Den stetig steigenden Beiträgen sollte der Kampf angesagt werden. Es war absehbar, dass die demografische Entwicklung der Bevölkerung den Beiträgen weiteren Schub nach oben geben würde. Dies führte unter der Regie von Bundesarbeitsminister Norbert Blüm zu der dritten wichtigen Rentenreform 1992. Die Anpassung der Renten erfolgt seitdem nicht mehr gemäß der Brutto-, sondern der Nettolöhne, was bei steigenden Beiträgen die Rentenerhöhungen dämpft. Außerdem müssen Frührentner nun einen Abschlag ihrer Rente in Kauf nehmen. "Dieser ist allerdings nach wie vor geringer als versicherungsmathematisch geboten", so Börsch-Supan.
["Nachbesserungen": demografischer Faktor / Öko-Steuer]
Die Reform 1992 erwies sich als unzureichend, um die Beitragssätze zu stabilisieren. Immer wieder wurden kleinere "Reformen" nachgereicht. Im Jahr 1988 [?] wurde versucht, das Rentenniveau in Zukunft deutlich zu senken, indem es von der Lebenserwartung abhängig gemacht werden sollte. Dieser "demografische Faktor" wurde jedoch nach der Bundestagswahl 1998 wieder kassiert. Stattdessen versuchte die neue Regierung unter anderem mit der Ökosteuer, die Beitragssätze zu senken oder zumindest stabil zu halten. ... Über eine schärfere Besteuerung des Energieverbrauchs fließen dem Staat seitdem weitere finanzielle Mittel zu. Diese werden als Zuschuss des Bundes an die Rentenkasse weitergereicht. Das aber reicht nicht: Die Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung steigen dennoch. Rund ein Drittel der Renten werden bereits jetzt über Steuern finanziert - Tendenz steigend. Der Staat kann die Altersvorsorge nicht mehr garantieren. Unter dem Eindruck explodierender Beitragssätze setzt die Politik nun zaghaft auf die private Vorsorge.
Riester-Reform 2001
Mit der Rentenreform 2001 wurde das Kapitaldeckungsverfahren wieder eingeführt. Mit der so genannten Riester-Rente soll die private Eigenvorsorge für das Alter steuerlich gefördert werden. "Damit räumt die Bundesregierung ein, dass das jahrzehntelang gegebene Versprechen einer verlässlichen, den Lebensstandard sichernden gesetzlichen Altersrente nicht länger aufrecht erhalten werden kann", schreiben die Rentenexperten Reinhold Schnabel und Meinhard Miegel in ihrer Analyse Rentenreform 2001. Die Bevölkerung wisse jetzt, dass sie zusätzlich privat vorsorgen müsse, wenn sie später auskömmlich versorgt sein will.
Allerdings sei der Schritt in Richtung private Vorsorge zu klein und zögerlich, kritisieren die Wissenschaftler. Die Rentenreform nähre die Illusion, dass die demografischen Probleme durch eine geringe Senkung des Rentenniveaus gelöst werden könnten. Damit werde die Motivation für die private Vorsorge gefährdet. Es werde aber auch - wie schon in der Vergangenheit - wertvolle Zeit vertan. Die unvermeidlichen Einschnitte würden in Zukunft um so schmerzhafter ausfallen, je später sie erfolgen.
Rentensystem droht der Kollaps [Defizite]
Dabei ist das System schon heute ausgereizt: Für das Jahr 2002 weist die gesetzliche Rentenversicherung bei Einnahmen von 216 Milliarden Euro ein Defizit von fast 4 Milliarden Euro aus. Um die Lücke zu stopfen, werden die Rentenbeiträge zum 1. Januar 2003 von 19,1 auf 19,5 Prozent erhöht. Die wahre Belastung aber liegt noch höher: Der Haushaltsentwurf 2003 der Bundesregierung sieht steuerfinanzierte Leistungen an die Rentenversicherung in Höhe von 77,3 Milliarden Euro vor. Sie sind mit einem Drittel aller Ausgaben mit Abstand der größte Block im Bundesetat. Wird der steuerfinanzierte Zuschuss für die Rentenkasse eingerechnet, liegt der Beitragssatz schon heute bei 28 Prozent.
Ab 2020 wird es ernst
... Immer mehr Junge müssen immer mehr Alte finanzieren. Die Schieflage wird sich von 2020 an drastisch verschärfen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Steigende Beiträge und sinkende Renten wären die Folge.
Mit Einführung der kapitalgedeckten Riester-Rente hat die Bundesregierung nach Meinung der meisten Ökonomen zwar einen Schritt in die richtige Richtung unternommen.Ob sie aber ausreicht, ist fraglich: Um mit diesem Instrument die drohende Versorgungslücke schließen zu wollen, müssten Arbeitnehmer 40 Jahre lang 4 Prozent ihres Bruttolohns sparen.
Ulla Schmidt: durch private Zwangsvorsorge Versorgungslücken privat ausgleichen ?
Kritisiert wird auch die komplizierte Ausgestaltung der Riester-Rente. Ökonomen und Verbraucherschützer sprechen von einem "bürokratischen Monster". In der Tat haben erst rund zehn Prozent der berechtigten Arbeitnehmer einen Riester-Vertrag abgeschlossen. Sozialministerin Ulla Schmidt sinnierte bereits laut über eine private Zwangsvorsorge. ...