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"Satt und sauber" reicht nicht

Sie haben selbst viele Jahre in der stationären Altenpflege gearbeitet. Als sie das Studium der Pflegewissenschaften an der Uni Witten/Herdecke aufnahmen, geschah das schon aus einer Erkenntnis heraus, die mehr und mehr zur Überzeugung wurde: "Es muss auch anders gehen!", sagten Margarete Decher und Jörg Burbaum. Es muss eine andere Form der Pflege und Betreuung von Demenzkranken geben als das "Satt-und-Sauber"-Prinzip.

Ein Prinzip mit verheerenden Folgen, wie Hans-Peter Winkler vom Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) verdeutlicht: Pflegebedürftige Menschen würden dadurchnoch pflegebedürftiger, verwirrter, sozial schwächer. "Die alten Menschen sterben in solchen Heimen mehrere soziale Tode, ehe sie den physischen Tod sterben."

Es geht auch anders. 2003 gründeten Margarete Decher und Jörg Burbaum die Autonomia GmbH. Ihre Idee: Wohngemeinschaften für Demente " die Folge: ein wahrer Boom. 18 solcher WGs gibt es inzwischen, vier davon in Dortmund, und ständig kommen neue hinzu. Das Besondere: Autonomia schult auch Pflegedienste, macht deren Mitarbeiter fit für die besonderen Herausforderungen, die Demenzpatienten an sie stellen. Die Dienste können sich dann bei den Angehörigen der Bewohner um den Pflegeauftrag in der WG bewerben. Dank dieses Wettbewerbs fallen die Wohngruppen nicht unter das Heimgesetz. Manche Kommunen akzeptieren das zwar nur zähneknirschend. In Dortmund, sagt Margarete Decher, gebe es aber "keine Probleme".

Das Projekt wird von der Uni Witten/Herdecke wissenschaftlich begleitet. Erste Erkenntnisse nach nicht einmal drei Jahren: Die Bewohner müssten weniger häufig ins Krankenhaus und seltener mit Psychopharmaka behandelt werden. Oft seien sie beim Einzug depressiv. Doch das gebe sich meist schnell. "Ich gehe sogar soweit, zu behaupten, dass es die Auffälligkeiten, die man Demenzkranken nachsagt, gar nicht gibt." Etwa den angeblichen Drang, wegzulaufen.

Für das Personal, sagt Margarete Decher, sei der Job "sehr anstrengend. Vor allem emotional". Trauerarbeit gehöre dazu; Geduld, die Fähigkeit, Chaos aushalten zu können; die permanente Bereitschaft, individuelle Lösungen zu suchen und dabei "ruhig auch mal zu spinnen". Flucht- und Rückzugsmöglichkeiten gibt es für die Pflegerinnen in der WG nicht. Distanz zu halten, in der Altenpflege oft mit "Professionalität" gerechtfertigt, fällt schwer, ist aber auch gar nicht erwünscht. Nähe darf sein. Soll sogar. - eFeF

 

Kein Wunder, nur ein Zuhause

Um den großen Tisch in der großen Wohnküche herrscht große Betriebsamkeit. Es ist Kaffeezeit. Selbst gebackener Kuchen steht auf dem Tisch. Der Kaffee dampft und duftet. Einige der sieben Bewohnerinnen dieser ganz und gar ungewöhnlichen Wohngemeinschaft haben Besuch. Drei Pflegerinnen wuseln umher. Und dann ist auch noch die Presse da. Kein Wunder also, dass WG-Hund Stups, ein knuddeliger kleiner Kerl, aufgeregt mit dem Schwanz wedelt und die beiden Wellensittiche Max&Moritz wild durcheinander zwitschern.

Wir sind zu Gast in einer WG für Demenzkranke. Sieben Bewohnerinnen teilen sich 330m². Drei Wohnungen in einem ganz normalen Mehrfamilienhaus sind dafür zu einer zusammengelegt und barrierefrei umgebaut worden. Jede Bewohnerin hat ihr eigenes kleines Reich. 15 bis 20 ganz private Quadratmeter, ausgestattet mit den eigenen Lieblingsmöbeln. An den Wänden und auf Kommoden Fotos von Angehörigen. Es gibt mehrere Badezimmer, Balkone, für Besucher ein Gästezimmer, den Gemeinschaftsbereich mit Wohnzimmer und Wohnküche.

Seit fünf Monaten das Zuhause von Erika Siegfried. Ein Jahr lang hat sie zuvor in einem Altenheim gelebt " wobei: ""Gelebt" kann man das eigentlich nicht nennen", sagt Tochter Heike. Vielmehr habe die 73-Jährige "in totaler Isolation vor sich hin vegetiert". Auch, weil sie krank wurde, zwischenzeitlich ins Krankenhaus musste. Erika Siegfried wurde über eine Magensonde ernährt, bekam einen Blasenkatheter gelegt. Ein paarmal am Tag kam eine Pflegekraft und drehte sie von einer Seite auf die andere. Mehr Kontakt zur Außenwelt war nicht. Die alte Frau nahm 40 Kilo ab. Zog sich in sich selbst zurück. Sprach kaum noch ein Wort.

"Das war kein Leben mehr, und wahrscheinlich hätte Mama auch nicht mehr lange gelebt, wenn meine Schwester und ich sie nicht dort heraus geholt hätten", sagt Tochter Heike. In der Demenz-WG sei sie regelrecht aufgeblüht. Dabei ist sie auch heute noch in sich gekehrt. Nicht eben das, was man eine Quasselstrippe nennt. Aber sie hat wieder Appetit, beteiligt sich an der Gemeinschaft, spült gelegentlich ab. Sonde und Katheter benötigt sie nicht mehr. Und manchmal huscht ihr sogar ein Lächeln über das Gesicht. Etwa dann, wenn sie die Fotos von Roy Black betrachtet. Dessen Musik hat sie immer gerne gehört. Und geweint, als der Schlagerstar starb. So wie sie weinte, als ihr Ehemann mit Anfang 50 bei einem Motorradunfall ums Leben kam. "Das war schwer damals", sagt Tochter Heike. "Aber wir haben"s geschafft."

Schwer sei es auch gewesen, den Niedergang der Mutter im Altenheim miterleben zu müssen. "Wenn wir das Personal fragten, warum sich ihr Zustand nicht bessert, bekamen wir zur Antwort: "Sie erwarten wohl Wunder!""

Die geschehen auch in der Wohngruppe nicht. Und doch hat Heike Möller heute ein gutes Gefühl. "Ich weiß, dass man sich hier intensiv um sie kümmert. Dass sie nicht die Decke anstarrt. Ich kann wieder ruhig schlafen."

Am Kaffeetisch hat Stups sich auf dem Schoß von Gertrud Mettig gemütlich eingerollt. "Schwester Gertrud" wird die 86-jährige Frau von den Mitbewohnerinnen genannt, weil sie früher als Hebamme gearbeitet hat. Eigene Kinder hat sie nicht, ihr Mann fiel im Krieg. In der Demenz-WG ist Gertrud Mettig die älteste Bewohnerin. Hier hat sie die Familie gefunden, die sie selbst nie hatte. Und mit Stups einen echten Freund " auch wenn der Hund eigentlich WG-Nesthäkchen Marlies Alheidt (65) gehört und es gelegentlich Streit darüber gibt, wer mit ihm Gassi gehen darf.

"Hier herrscht nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen. Es gibt auch mal Streit", sagt Pflegerin Özlem, die von den Frauen liebevoll "Özi" genannt wird. Auch einen handfesten Streik hat"s schon gegeben. Da wollten die Bewohnerinnen partout nicht bei der Küchenarbeit mitmachen. "Auch gut, dann spielen wir halt Hotel mit Vollpension", sagt Özlem. Und ihre Kollegin Maria ergänzt: "Wir können von Demenzkranken nicht erwarten, dass sie sich uns anpassen " also passen wir uns ihnen an." Einer von vielen Unterschieden zum Heim: In der WG machen sich die Bewohnerinnen ihre Regeln selbst. Wer bis nachts fernsehen will, sieht bis nachts fern. Wer gerne bis in die Puppen schläft, schläft eben bis in die Puppen. So sein, wie sie sein wollen " hier dürfen die Frauen das. - Frank Fligge

Quelle: RN vom 07. Februar 2006
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