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Armutsindustrie boomt

Mit »Tafel-Thesen« macht sich Diakonie Argumente ihrer Kritiker zu eigen. Sammler von Lebensmittelspenden wollen »Produktpalette« erweitern

Kaum ein Phänomen hat die wachsende Armut in Deutschland so ins öffentliche Bewußtsein gerückt wie die wachsende Zahl von Lebensmittelausgabestellen. Mittlerweile existieren allein 861 »Tafeln«, die nach Angaben ihres Bundesverbandes inzwischen etwa eine Million Menschen mit Nahrung versorgen. Während die »Tafelbewegung« immer weiter anwächst, nimmt aber auch die Kritik an dieser Form »bürgerschaftlichen Engagements« zu. Der zentrale Vorwurf lautet, daß die Arbeit der Initiativen der Politik als Vorwand diene, den Sozialstaat weiter zu demontieren.

Insbesondere seit der Einführung von »Hartz IV« wird die Funktion der Tafeln in diesem Licht betrachtet. Befeuert wird die zunächst eher zaghaft aus dem linken Spektrum geäußerte Kritik durch eine Publikation des Soziologen Stefan Selke, einst selbst Transferleistungsbezieher, der 2007 begann, bei einer Tafel in Baden-Württemberg mitzuarbeiten. Seine Erlebnisse hat er in einem 230 Seiten starken Buch mit dem Titel »Fast ganz unten – Wie man in Deutschland mit Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird« zusammengefaßt. Der Medienwissenschaftler kritisiert vor allem das »Tafelsystem«. Bestand das ursprüngliche Motiv darin, das Überflüssige zu verteilen, sei die Leitidee längst, den Mangel auszugleichen. »Systeme wie das der Tafeln verstetigen Armut«, so Selke.

Nachdem auch die uneingeschränkt positive Medienberichterstattung nachgelassen hat, sehen sich die Betreiber offenbar veranlaßt zu reagieren. So hat der Bundesverband der Diakonie der Evangelischen Kirche in Deutschland kürzlich ein »Positionspapier« vorgelegt. Knapp die Hälfte aller »Tafeln« mit rund 40000 ehrenamtlichen Mitarbeitern befindet sich in der Trägerschaft einer der beiden Amtskirchen. In seiner Bestandsaufnahme macht sich der Bundesverband der Diakonie sogar die Argumente der Tafel-Kritiker zu eigen. »Die ›Tafeln‹ zeigen überdeutlich, daß trotz staatlicher Sozialpolitik Armen eine menschenwürdige Existenz verweigert wird. Insbesondere politische Akteure instrumentalisieren und mißbrauchen in einigen Fällen die Arbeit der ›Tafeln‹, um eigene Untätigkeit und Versäumnisse bei der Überwindung von Armut zu verdecken«, stellt der Verband klar. »Die ›Tafeln‹ dürfen nicht zum Bestandteil einer staatlichen Strategie zur Überwindung von Armut werden. Unabhängig davon, ob und in welchem Umfang ›Tafeln‹ existieren, ist es ausschließlich die Aufgabe des Staates, (...) die Daseinsvorsorge nach sozialstaatlichen Zielsetzungen der sozialen Gerechtigkeit und sozialen Sicherheit zu gestalten.« In ihren »Tafel-Thesen« kündigt die Diakonie für die Zukunft an, »die Integrität der Spender und Sponsoren in sozialer, ökologischer und ökonomischer Perspektive zu beachten«.

Nicht zuletzt dieser Punkt warf bei der Vorstellung der Thesen in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg am Dienstag abend die Frage nach der Glaubwürdigkeit nicht nur des Sozialverbandes, sondern der gesamten »Tafel-Bewegung« auf. Bis dato sind die Arbeitsbedingungen und Bezahlung der Belegschaften innerhalb der Spenderunternehmen nämlich tabu. Ob der von der SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles bei der Veranstaltung geforderte flächendeckende Mindestlohn zukünftig zur Voraussetzung für die Kooperation etwa mit Lebensmittelketten gemacht wird, ließen die Diakonie-Vertreter offen. Schweigen auch, als Nahles daran erinnerte, daß die Hartz-IV-Gesetze, die auch nach Auffassung der Diakonie wesentlich zur Verarmung beigetragen hätten, »mit Zustimmung der Wohlfahrtsverbände« auf den Weg gebracht wurden. Für Aufhorchen bei den Tafel-Kritikern dürften auch die »Handlungsempfehlungen« des Diakonischen Werkes sorgen. »Ideen, die über die Grundidee der Tafeln hinausgehen, können in Kooperation mit Netzwerkpartnern reflektiert und gegebenenfalls realisiert werden«, heißt es darin. Bei der Podiumsdiskussion im Gotteshaus fiel dazu bereits ein Stichwort: »Medikamenten-Tafel«.

Quelle: Junge Welt vom 22.04.10

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