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Nur die Reichen werden reicher

Die Reformen benachteiligen die sozial Schwachen. Es gibt immer mehr Arme, Bettler und Suppenküchen. -- Artikel von Klaus-Peter Schmidt in der Zeit Nr.34 vom 12.08.2004

Im Oktober steht der Bundesregierung der nächste Schock ins Haus: der Armuts- und Reichtumsbericht. Das Papier wird Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine Mannschaft an ihr Versprechen erinnern, das sie nach der Wahl 1998 abgaben: eine Politik zu betreiben, »die einem Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und Reich entgegenwirkt«. Rot-Grün versprach damals, alles zu tun, damit die Verteilung des Wohlstands nicht ungleicher und die Kluft zwischen Großverdienern und kleinen Leuten nicht größer wird. Heute ist klar: Die Bundesregierung hat ihr selbst gestecktes Ziel verfehlt – und zwar deutlich.

Das Thema ist politisch heikel. Auf der einen Seite tun die Spitzenverdiener im Land so, als sei es normal, dass sie ein paar Millionen Euro im Jahr verdienen. Im Vergleich zu den USA sei das eher bescheiden, argumentieren die Einkommensmillionäre vom Schlag des Bankers Josef Ackermann (7,7 Millionen Euro) oder des Daimler-Chefs Jürgen Schrempp (4,2 Millionen Euro). Auf der anderen, der Schattenseite, wächst die Angst vor der Armut. Auf den Straßen der Großstädte wird mehr gebettelt, immer mehr Kinder werden Empfänger von Sozialhilfe, die Schlangen in den Suppenküchen werden länger, Alkohol scheint vielen der einzige Ausweg. »Armut ist jetzt ganz normal«, verkündete unlängst das Caritas-Magazin Sozialcourage auf der Titelseite. Und Hartz IV, nicht nur von der PDS als »Armut per Gesetz« geschmäht, vereint die Menschen zu langen Protestmärschen aus Furcht, es könnte noch schlimmer kommen.

Auf einmal ist die alte Frage wieder hoch aktuell: Werden die Reichen noch reicher, womöglich zulasten der Armen?

Erst in jüngster Zeit ist die Antwort eindeutig. Gegen Ende der ersten rot-grünen Legislaturperiode war der Wohlstand im Land nicht gleicher, aber auch nicht ungleicher verteilt als zu Beginn; Einkommens- und Vermögensverteilung zeigten keine nennenswerten Verschiebungen. Doch seitdem geht’s bergab – zumindest für die kleinen Leute. »Die Trendwende ist da, die Armut nimmt eindeutig zu«, sagt Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Er macht das an der Zahl der Sozialhilfeempfänger fest. Seit 2000 wuchs sie von 2,68 Millionen Personen auf über 2,8 Millionen. Und Schneider ist sich sicher, dass es noch mehr werden.

In Berlin bezieht heute schon jeder 13. Haushalt Sozialhilfe, allein im vergangenen Jahr wuchs ihre Zahl um 3000 auf fast 140000. Bei monatlich 421 Euro für den laufenden Lebensunterhalt sind die Menschen für jede Hilfe dankbar. Etwa von der Berliner Tafel, die nach dem Motto »Nicht alle Menschen haben ihr täglich Brot – und doch gibt es Lebensmittel im Überfluss« Nahrung einsammelt und an Bedürftige verteilt. In 380 deutschen Städten existieren mittlerweile solche ehrenamtlich betriebenen Einrichtungen, sie versorgen Tag für Tag eine halbe Million Menschen in Not mit Lebensmitteln. Bevorzugte Ausgabenstellen: Suppenküchen und Obdachlosenheime. Immer häufiger stehen auch Menschen an, die aus einer bürgerlichen Existenz abgestürzt sind.

Und das in einem Augenblick, in dem der Reichtum in Deutschland größer ist denn je. Tatsächlich ist nichts irriger als die Vorstellung, die Deutschen insgesamt würden immer ärmer. Gerade hat die Bundesbank vorgerechnet, wie viel Geldvermögen (also Bargeld, Wertpapiere, Bankguthaben, Ansprüche an Versicherungen und Pensionskassen) die privaten Haushalte hierzulande angesammelt haben. Ende 2003 waren es fast vier Billionen Euro – das sind 1,5 Billionen mehr als noch vor zehn Jahren. Rein statistisch besitzt jeder deutsche Haushalt in Deutschland ein Geldvermögen von mehr als 100000 Euro. Wenn man davon die Schulden abzieht, bleiben immer noch 60000 Euro.

Allerdings unterscheidet diese Information nicht zwischen Arm und Reich. Abgesehen davon, dass Immobilienbesitz außer Acht gelassen wird – die Zahl gibt auch keine Auskunft darüber, wie der Reichtum verteilt ist. Nur dann aber ließe sich präzise sagen, ob der Abstand zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren gewachsen oder geschrumpft ist.

Seriöse Angaben über die Vermögensverteilung in Deutschland sind rar – und in der Regel veraltet. Bisher beruhten die aktuellsten Analysen auf Daten von 1998. Doch nun liegen Zahlen vor, die das Statistische Bundesamt im vergangenen Jahr in Form einer aufwändigen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ermittelte. Und da bestätigen bisher unveröffentlichte Berechnungen die alte Erfahrung: Wer hat, dem wird gegeben. Und zwar reichlich.

In den vergangenen zehn Jahren ist das zusätzliche Geldvermögen vor allem jenen zugeflossen, die schon eine Menge hatten, die Ungleichheit der Verteilung hat deutlich zugenommen (siehe Tabelle). Hätte der Börsencrash von 2001 nicht gewaltige Wertpapiervermögen zerstört, wäre die Ungleichheit heute noch stärker ausgeprägt. Reiner Braun von der Forschungsgesellschaft empirica gewinnt aus den Zahlen noch eine andere Erkenntnis: Die Vermögen sammeln sich verstärkt bei älteren Bürgern an. »Gleicher wird die Gesellschaft dadurch nicht«, sagt er, »doch dahinter steht eine Generation besser abgesicherter Rentner.«

Indes sind nicht die Vermögen, sondern die Einkommen der beste Indikator dafür, wo Wohlstand und Armut zu finden sind. Eine erste Antwort gibt die Aufteilung der Einkommen auf die Faktoren Arbeit und Kapital. Der DGB schrieb im November in seinem Verteilungsbericht 2003: »Die Schere zwischen Arbeitnehmereinkommen und Gewinn- und Vermögenseinkommen hat sich in den vergangenen 20 Jahren weiter geöffnet.« Der durchschnittliche Arbeitnehmer verdiente um 124 Prozent mehr, die Gewinn- und Vermögenseinkommen kletterten dagegen um 203 Prozent.

Diese Rechnung ist freilich nicht mehr als eine grobe Annäherung, da die benutzten Einkommenskategorien nicht mehr ganz in die Welt von heute passen. So fallen Schrempp, Ackermann und Co genauso in die Kategorie »Arbeitnehmer« wie ein kleiner Angestellter der Deutschen Bank oder ein Hausmeister bei DaimlerChrysler. Die bessere Methode, um Entwicklungen in der Verteilung darzustellen, bleibt der Vergleich von Haushaltseinkommen.

Dabei zeigt sich, dass 2002 ein Wendejahr war. Bis 2001 lag der Anteil des ärmsten Fünftels der Bevölkerung am gesamten Einkommen knapp unter zehn Prozent, 2002 sackte der Anteil auf 9,3 Prozent ab. Gleichzeitig erreichte der Anteil des reichsten Fünftels an allen Einkommen eine Höchstmarke von 36,4 Prozent.

In den neuen Bundesländern, deren Werte seit 1990 ermittelt werden, ist die Ungleichheit beträchtlich geringer als im Westen, aber auch dort wächst sie kontinuierlich. Zwar muss man im Osten die Superreichen nach wie vor mit der Lupe suchen, aber die Zahl der Haushalte mit äußerst bescheidenen Einkommen nimmt langsam zu. Hanna Haupt vom Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg umschreibt das so: »Die Ausreißer nach oben kann man an fünf Fingern abzählen, die nach unten werden dagegen immer mehr.«

Aber wo fängt Armut an? Da hat jede Definition etwas Willkürliches. Ein armer Deutscher ist superreich im Verhältnis zu einem Armen in der Dritten Welt. Und selbst hierzulande müssen auch Arme in der Regel nicht hungern. Nach einer gebräuchlichen Abgrenzung gilt in Europa ein Haushalt als arm, dem weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens aller Haushalte zur Verfügung steht. Diese Grenze lag 2002 bei monatlich 1177 Euro. Der Anteil der »armen« Haushalte sank nach diesem Maßstab in Deutschland in den Jahren bis 2001 fast kontinuierlich auf 9,4 Prozent, 2002 schnellte er abrupt auf 11,1 Prozent hoch (siehe Tabelle). Bemerkenswert ist dabei, dass offensichtlich in jüngster Zeit auch ein paar Betuchte aus der Kategorie »Wohlstand« (mehr als 150 Prozent des Durchschnittseinkommens) herausgefallen sind.

Unübersehbar ist der Zusammenhang zwischen Armut und Arbeitslosigkeit. In den ersten vier Jahren der Regierung Schröder bildete sich die Arbeitslosigkeit (wenn auch langsam) zurück. Doch mit der unerwartet langen Phase der wirtschaftlichen Stagnation stieg sie wieder – und mit ihr die Zahl der Haushalte, die in die unteren Einkommensklassen abrutschten. Das Jahr 2002 brachte die Wende zum Schlechten. So heißt es im demnächst erscheinenden Datenreport des Statistischen Bundesamtes: »Alle Indikatoren weisen ungeachtet des zugrunde liegenden Einkommenskonzeptes für 2002 eine deutliche Zunahme der Armut gegenüber dem vorausgehenden Jahr aus.« Inzwischen ist das Risiko eines Arbeitslosen, unter die Armutsgrenze zu fallen, mehr als dreimal so hoch wie das von Beschäftigten.

Altersarmut dagegen ist – entgegen einer verbreiteten Meinung – kein dramatisches Problem in Deutschland. Vor ein paar Monaten kam das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) zu dem Schluss, dass »die Einkommensposition alter Menschen nicht viel unter dem Durchschnitt aller Haushalte liegt und die Mehrzahl finanziell sogar besser gestellt ist als Familien mit Kindern«. Seit Mitte der achtziger Jahre konnten die Alten (mit kurzer Unterbrechung nach der Wiedervereinigung) ihre Einkommensposition nachhaltig verbessern.

Erstaunlich gut gestellt sind die Rentner in Ostdeutschland – noch. Nur wenige fallen unter die Armutsgrenze, ihre Arbeitsbiografien sichern ihnen eine solide Altersrente, häufig zwei pro Haushalt. Doch die vielen jungen und weniger jungen Arbeitslosen werden schnell beim Arbeitslosengeld II landen, danach mit Minirenten auskommen müssen und in der Sozialhilfe landen. »Das wird ein galoppierender Prozess«, warnt Sozialforscherin Haupt, »in zehn Jahren wird die Armutsrate Ost rapide wachsen.«

Auch wenn es sich nicht wegdiskutieren lässt, dass die Reichen weiter gut leben und die Armen deutlich ärmer werden: »Die Entwicklung war bisher nicht dramatisch«, sagt Heinz-Herbert Noll, Experte für soziale Indikatoren im Mannheimer Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA). Jedenfalls steht im europäischen Vergleich Deutschland immer noch deutlich besser da als der Durchschnitt. Stolz meldete die Bundesregierung in ihrem Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung vom Frühjahr nach Brüssel: »Deutschland gehört damit gemeinsam mit den skandinavischen Ländern und zum Beispiel den Niederlanden zu den EU-Ländern mit relativ geringer Armut und sozialer Ausgrenzung.«

Doch inzwischen räumt selbst die Bundesregierung ein, dass das Armutsrisiko hierzulande größer geworden ist. Der Grund ist schnell ausgemacht: die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. »Hartz IV erzeugt Armut«, weiß Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Und die Versicherung von Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement, niemand werde abstürzen, jeder werde ein Auskommen haben? Dafür hat Schneider nur ein Kopfschütteln übrig.

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