Immer mehr Kinder am Existenzminimum
In Nordrhein-Westfalen steigt die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die von Hartz IV leben. Gelsenkirchen führt die Rangliste der Städte an. Landesjugendamt: Lebensbedingungen für Kinder werden immer schwieriger.
Seit der Einführung von Hartz IV ist die Zahl der Kinder, die von staatlichen Leistungen abhängen, gestiegen. Aktuell lebten in NRW rund 442.000 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren von Hartz IV, sagt Werner Marquis, Sprecher der Regionaldirektion West der Arbeitsagentur. Im September vergangenen Jahres waren es noch 23.600 Kinder weniger. Bundesweit stieg die Zahl der armen Kinder mit Hartz IV von einer Million auf 1,7 Millionen, zeigt eine Studie des Bremer Institus für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) von 2005.
"Die Zahl der Kinder die von Hartz
IV leben steigt, weil sich mehr Eltern arbeitslos melden oder von
Arbeitslosengeld I zu ALG II wechseln", so Marquis. Auch die
Städte und Kommunen bekommen das zu spüren. "Vor der
Einführung von ALG II hat jedes siebte Kind in Köln
Sozialhilfe bezogen, jetzt ist es jedes fünfte", sagt der
Kölner Sozialamtchef Stephan Santelmann. Damit seien in der
Domstadt rund 28.000 Kinder betroffen.
Aus der BAIJ-Studie geht außerdem
hervor, dass in NRW im Oktober 2005 von 1.000 Kindern 159 von
Sozialgeld lebten. Damit liegt das Bundesland im Mittelfeld hinter
den östlichen und kleineren Bundesländern.
Am schlechtesten von allen NRW-Städten
schnitt Gelsenkirchen ab, gefolgt von Dortmund, Essen, Duisburg und
Köln. In Gelsenkirchen lebten Ende 2005 von 1.000 Kindern 303
von Sozialgeld. Der Ruhrgebietsstadt fehlt es seit Jahren an Jobs.
"Durch die Strukturkrise bei Kohle und Stahl sind wir arg
gebeutelt", sagt Stadtsprecher Martin Schulmann.
Derzeit werde versucht, auf altem
Zechengelände neue Gewerbe anzusiedeln. Allerdings werde es noch
Jahre dauern, bis dadurch Arbeitsplätze geschaffen würden.
Mit Hilfs- und Betreuungsangeboten für die Familien und
verstärkter Jugendarbeit sollen die Betroffenen unterstützt
werden, so Schulmann.
"Die Lebensbedingungen für
Kinder werden immer schwieriger", sagt Klaus Dreyer vom
Landesjugendamt NRW. "Hartz IV ist aber nur ein Baustein des
Ganzen." Andere Gründe seien unter anderem die steigende
Scheidungsrate oder die zunehmende Ghettoisierung in "Randlagen".
Die finanziellen Leistungen durch Hartz
IV seien aber in der Regel so hoch, dass zumindest die Existenz der
Kinder gesichert sei, sagt Peter Bartow, Leiter des Sozialamtes
Dortmund. "Die Kinderarmut scheint mir eher eine Frage des
individuellen ,Kümmerns' zu sein, das fängt schon bei der
fehlenden Schulverpflegung an."
Dennoch fielen mit den Hartz-Reformen
viele einmalige Zuschüsse weg, etwa für neue Kleidung,
Möbel oder Spielsachen oder die Weihnachtsbeihilfe, sagt
Santelmann. Extrageld gebe es nur noch für Klassenfahrten.
Manche Familien hätten aber auch von Hartz profitiert und etwas
mehr in der Tasche. "Das sind vor allem diejenigen, die vorher
Sozialhilfe bezogen haben", so Dreyer.
Im Jahr 2004 erhielten in NRW noch
knapp 732.000 Menschen Sozialhilfe. Das geht aus einer aktuellen
Studie des Statistischen Bundesamtes hervor, der letzten
statistischen Erfassung von Sozialhilfeempfängern vor den
Hartz-Reformen. Damals waren rund 9 Prozent der Kinder von
Sozialhilfe abhängig. Allerdings sei die Studie nicht mehr
kompatibel mit den heutigen Hartz-Statistiken, so Werner Marquis.
GESA SCHÖLGENS
Quelle: taz NRW vom 25.3.2006