Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
Vermögensverteilung – skandalös ungleich, Einkommensverteilung und Armut, Gestiegene Armut – gerade bei Kindern! Arbeitslosigkeit macht arm, jeder zehnte Haushalt ist bereits überschuldet
Quelle: verdi.de/wirtschaftspolitik
Anspruch und Wirklichkeit
„Die Bekämpfung der Armut ist ein Schwerpunkt der Politik der neuen Bundesregierung. Besonders die Armut von Kindern muss reduziert werden.“ So stand es im ersten Koalitionsvertrag von Rot-Grün im Oktober 1998. Sieben Jahre später ist die Bilanz ernüchternd: Die Armut ist in Deutschland weiter angestiegen. Nicht weil es weniger zu verteilen gibt, sondern weil die Reichen immer mehr für sich beanspruchen. Dies bescheinigt sich die Bundesregierung selbst in ihrem neuen, zweiten Armutsund Reichtumsbericht. Ein erneuter Beleg, dass vor allem die Reichen und die Unternehmen die Gewinner der rot-grünen Wirtschaftspolitik sind. Statt den Trend zu einer immer größeren Schieflage in der Einkommens- und Vermögensverteilung zu stoppen, hat sich diese Entwicklung in den letzten Jahren sogar verstärkt.
Vermögensverteilung – skandalös ungleich
Das gesamte Nettovermögen (dazu gehören alle Spar- und Bausparguthaben, Wertpapiere, Termingelder, Lebensversicherungen und Immobilien, abzüglich der Schulden) ist in Deutschland zwischen 1998 und 2003 um knapp 20 Prozent von 4,2 Billionen Euro auf rund fünf Billionen Euro gestiegen. Dies wäre eigentlich ein Anlass zur Freude. Nur: Die Mehrheit der Bevölkerung hat von diesem Zuwachs nichts abbekommen. Im Gegenteil: Ihr Anteil am Gesamtvermögen ist gefallen. Und das, obwohl bereits in der Vergangenheit die Verteilung des Vermögens in Deutschland skandalös ungleich war.
Bereits vor zehn Jahren war die Vermögensverteilung extrem ungleich.
Heute sieht es noch schlimmer aus.
'1993 besaßen zehn Prozent der reichsten Haushalte bereits fast 45 Prozent des gesamten Nettovermögens. 2003 sind es mit knapp 47 Prozent noch einmal gut zwei Prozentpunkte mehr.
Diese Entwicklung ist für sich genommen schon höchst bedenklich. Zum Skandal wird sie, wenn man feststellt, dass die ser Zuwachs bei den Reichen auf Kosten der Armen gegangen ist. Die ärmsten zehn Prozent der Haushalte hatten bereits 1993 nicht nur überhaupt kein Vermögen, sondern waren in Höhe von 0,2 Prozent des gesamten Nettovermögens verschuldet. 2003 hat sich ihre „Vermögens“position weiter verschlechtert. Mittlerweile sind sie in Höhe von 0,6 Prozent des Vermögens verschuldet – eine Verdreifachung innerhalb von zehn Jahren.
Insgesamt ist die Gesellschaft beim Nettogesamtvermögen höchst gespalten. Die reichsten 50 Prozent hatten mit 96,0 Prozent im Jahr 1993 bereits fast alles, die unteren 50 Prozent mit 4,1 Prozent fast nichts. Zehn Jahre später sieht es noch schlimmer aus: Die obere, reiche Hälfte der Haushalte hat ihren Anteil noch einmal auf 96,3 Prozent erhöhen können, während die untere, ärmere Hälfte bei einem Anteil von nur noch 3,8 Prozent am Vermögen gelandet ist.
Einkommensverteilung und Armut
Sofern „Vermögen“ überhaupt vorhanden ist, besteht es bei den meisten Menschen aus Ersparnissen für geplante größere Ausgaben wie ein Auto, eine Ferienreise oder zur Verbesserung des Lebensstandards im Alter. Manche sparen auch für ein eigenes Haus oder wohnen bereits in den eigenen vier Wänden.
Für den weit überwiegenden Teil der Bevölkerung sind daher die regelmäßigen Einkommen entscheidend für den Lebensstandard. Dazu gehören Einkommen aus unselbstständiger und selbstständiger Arbeit, aus Vermögen sowie aus Transfereinkommen wie Kindergeld, Arbeitslosenunterstützung oder die Rente.
Wer ist nun arm? In den reichen Ländern kann es nicht um absolute Armut gehen – wenn Menschen nicht einmal über ein Minimum an lebensnotwendigen Dingen wie Nahrung, Wasser, Kleidung oder ein Dach über dem Kopf verfügen. Armut in reichen Ländern bedeutet immer relative Armut. Wenn jemand weit unter dem liegt, was in der Gesellschaft als normaler Lebensstandard gilt, dann wird von Armut gesprochen. Dazu gehört, dass jemand nicht nur irgend etwas zu essen hat, sondern auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben möglich ist. Oder dass Kinder eine angemessene Bildung erfahren, unabhängig vom Einkommen der Eltern.
Um Armut auch international vergleichen zu können, hat man sich auf bestimmte Definitionen geeinigt. Danach sind diejenigen arm, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens vergleichbarer Haushalte zur Verfügung haben. Für allein Stehende waren das im Jahr 2003 monatlich knapp 940 Euro. Für weitere Erwachsene in einem Haushalt gilt nur der halbe Wert, für Kinder unter 14 Jahren ein Drittel des Werts. Eine vierköpfige Familie gilt somit in Deutschland als arm, wenn sie mit insgesamt weniger als 1.970 Euro im Monat auskommen muss. Davon müssen alle Ausgaben wie Lebensunterhalt, Miete, Kleidung, Schulbücher oder die Kosten einer Klassenfahrt bestritten werden.
Armut ist relativ
In der Bundesrepublik müsse niemand hungern, erklärte Bundesfamilienministerin Renate Schmid. Hier gäbe es also keine absolute Armut. Unabhängig davon, ob diese Einschätzung den Tatsachen entspricht, ist das kein Zeichen von fehlender Armut. Die Armutsschwelle von knapp 940 Euro ist die Obergrenze, an der Armut gemessen wird. Viele Menschen müssen mit weitaus weniger Geld auskommen.
Zwei Prozent der Bevölkerung haben
höchstens 600 Euro monatlich zur Verfügung.
Es grenzt deshalb an Zynismus, wenn Renate Schmid meint, Bedürftigkeit werde häufig dadurch ausgelöst, dass Familien ihren Haushalt nicht ordentlich führen. Haushaltskurse will sie anbieten. Arme Familien sollen zum Beispiel lernen, dass ein Gemüseeintopf nicht nur gesünder sondern erheblich billiger sei als Hamburger und Pommes aus dem Fast-Food-Restaurant. Vielleicht hat eine von Frau Ministerin geschulte Familie dann noch so viel Geld übrig, dass es Sonntags für eine Fleischeinlage in den Gemüseeintopf reicht.
Trotzdem wird es – wenn überhaupt – nur selten für einen Kino- oder Theaterbesuch reichen. Und bei den gestiegenen Eintrittspreisen ist das Schwimmbad für die ganze Familie auch im Sommer höchstens einmal im Monat drin. Für Kinder ist es besonders schwer, mit Einschränkungen leben zu müssen. Sie wollen mit den Freundinnen und Freunden in der Schule mithalten. Doch wovon sollen Eltern einen Scout-Schulranzen, die Handy-Rechnung, begehrte Turnschuhe von Kangaroo oder gar eine Klassenfahrt bezahlen, wenn das Geld so schon hinten und vorne nicht reicht?
Gestiegene Armut – gerade bei Kindern!
Gemessen am laufenden Einkommen ist die Armut in den letzten 30 Jahren in den alten Bundesländern kontinuierlich angestiegen. Entsprechende Daten aus der Vergangenheit der neuen Länder liegen nicht vor. In Westdeutschland gelten gut 12 Prozent, in Ostdeutschland über 19 Prozent der Bevölkerung als arm. Im Durchschnitt ergibt dies für Gesamtdeutschland eine Armutsquote von 13,5 Prozent gegenüber gut zwölf Prozent im Jahr 1998.
Eines von fünf Kindern wächst heute in Armut auf.
'1998 war es „nur“ jedes siebte Kind.
Kinder sind überproportional von Armut betroffen: 19 Prozent aller Kinder oder fast jedes fünfte wächst in Armut auf. Gegenüber 1998 ist das ein Anstieg um fast ein Drittel. Familien mit Kindern und zwei Elternteilen stehen noch vergleichsweise gut da: Paare mit zwei Kindern sind sogar seltener arm als der Durchschnitt der Bevölkerung. Nur bei Paaren mit einem Kind oder mit drei und mehr Kindern liegt das Armutsrisiko bei rund 14 Prozent und damit leicht über dem Durchschnitt. Die Hauptursache für Kinderarmut ist die hohe Armut in Familien von allein Erziehenden.
Kein Trost kann sein, dass der Anteil der Armen in dieser Gruppe konstant geblieben ist. Er liegt nach wie vor sehr hoch bei mehr als einem Drittel.
Über 90 Prozent der allein Erziehenden sind Frauen. Die verbreitete Armut in Ein- Eltern-Haushalten ist deshalb auch ein wesentlicher Grund für die höhere Armut von Frauen.
Arbeitslosigkeit macht arm
Einen gravierenden Anstieg von Armut gibt es bei Erwerbslosen. Schon 1998 war ein Drittel aller Erwerbslosen arm. Der Anteil ist bis 2003 auf 41 Prozent gestiegen. Er wird sich noch deutlich erhöhen, denn die erheblichen Einschnitte durch Hartz IV finden im neuen Armuts- und Reichtumsbericht noch keinen Niederschlag. Zur gesellschaftlichen Ausgrenzung durch den Jobverlust kommt für fast die Hälfte der Betroffenen zusätzlich noch die Ausgrenzung durch Armut.
Besonders allein Erziehende haben wegen der mangelhaften Kinderbetreuung geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Arbeitslosigkeit oder nur geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind deshalb auch bei dieser Bevölkerungsgruppe die wichtigste Ursache für Armut. Staatliche Transferleistungen wie Hilfe zum Lebensunterhalt, Kindergeld und Erziehungsgeld reichen nicht aus, um Armut zu verhindern. Für eine wirksame Armutsbekämpfung ist ein umfassendes Angebot von Krippen, Kitas und Ganztagsschulen unabdingbar.
Jeder zehnte Haushalt ist bereits überschuldet
Die zunehmende Armut zeigt sich im starken Anstieg von überschuldeten Haushalten. Das sind Haushalte, die ihre Schulden nicht mehr bedienen können. 1994 lag ihre Zahl noch bei zwei Millionen. 2002 sind es bereits mehr als drei Millionen. Dies bedeutet einen Anstieg um 55 Prozent in nur acht Jahren. Damit war im Jahr 2002 fast jeder zehnte Haushalt in Deutschland überschuldet.
Zwischenzeitlich dürften es wegen der weiter gestiegenen Arbeitslosigkeit und immer mehr Billigjobs noch viel mehr sein. Arbeitslosigkeit und niedrige Einkommen sind nämlich die hauptsächlichen Ursachen der Überschuldung.
Umsteuern – wichtiger denn je
Die Politik der rot-grünen Bundesregierung hat die Situation in Deutschland insgesamt verschlechtert. Bräuchte es noch eines Beweises, dann ist es der neue Armutsund Reichtumsbericht. Bereits die Entwicklung der Arbeitslosigkeit hat schon Monat für Monat gezeigt, dass die verordnete Medizin nicht hilft, sondern es dem Patienten immer schlechter geht. Dies zeigt sich nun auch in dem immer weiteren Auseinanderklaffen von Einkommen und Vermögen: Die Armen werden mehr und noch ärmer und die Reichen immer reicher.
Insofern zeigt der neue Armuts- und Reichtumsbericht, wie dringlich eine Wende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist. Die massiven steuerlichen Entlastungen für Unternehmen und Hochverdiener im Rahmen des „größten Steuersenkungsprogramms der deutschen Nachkriegszeit“ (Hans Eichel) haben – entgegen den Versprechungen – gerade nicht dazu geführt, dass es zu mehr Investitionen und Arbeitsplätzen gekommen ist. Im Gegenteil. Einzig die Gewinne sind explodiert. Statt Investitionen gab es höhere Aktienkurse. Die Steuereinnahmen, auf die der Staat verzichtet hat und die er so dringend bräuchte, sind in die Finanzmärkte geflossen. Eine Wende in der Wirtschaftspolitik muss dafür sorgen, dass der zunehmenden Einkommens- und Vermögenspolarisierung wirksam entgegengewirkt wird. Besserverdienende und Unternehmen müssen wieder stärker an der Finanzierung notwendiger gesellschaftlicher Aufgaben beteiligt werden. Arbeitsplätze müssen durch öffentliche Investitionen geschaffen werden.
Hierzu liegen ausgearbeitete Vorschläge von ver.di seit langem vor: (Siehe www.wipo.verdi.de).
- Wiedereinführung der Vermögensteuer
- Erhöhung der Erbschaftsteuer
- „Konzept Steuergerechtigkeit“
- Zukunftsinvestitionsprogramm für Arbeit, Bildung und Umwelt.
'500.000 neue Arbeitsplätze
Ein Zukunftsinvestitionsprogramm für Arbeit, Bildung und Umwelt würde 500.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Da Arbeitslosigkeit einer der wesentlichen Ursachen für Armut ist, wäre dies ein wirksamer Schritt zur Bekämpfung der Armut. Aber nicht nur das: Schulen und Straßen würden nicht mehr weiter verfallen. Auch für den Umweltschutz würde wieder mehr getan. Und vor allem für die Bildung und Betreuung unserer Kinder, wenn mehr Lehrerinnen und Erzieher sich Zeit für unsere Kinder nehmen könnten.
Dafür muss der Staat mehr Geld ausgeben. Von heute 20 Milliarden Euro ansteigend bis auf 40 Milliarden Euro bis 2008. Finanziert durch höhere Steuern bei Vermögenden und Reichen! Ein „Weiter so“ oder sogar eine Verschärfung des eingeschlagenen Wegs in der Wirtschaftspolitik wie es die CDU/CSU und die FDP, aber auch Teile der rot-grünen Regierung fordern, wird nicht weniger, sondern mehr Armut schaffen. Dann wird der nächste Armuts- und Reichtumsbericht in vier Jahren einen weiteren Anstieg von Armut, noch reichere Reiche und eine Entwicklung zu einer noch ungerechteren Gesellschaft dokumentieren.
Wer die Armutsbekämpfung ernst nimmt und die Auseinanderentwicklung von Einkommen und Vermögen wirklich bekämpfen will, kommt an der vorgeschlagenen Wende in der Finanz- und Steuerpolitik nicht vorbei.