Auf dem Weg zur Klassenmedizin?
Die Medizinsoziologin Nadja Rakowitz über die Gesundheitsreform der großen Koalition und mögliche Alternativen
Die
Medizinsoziologin Nadja Rakowitz (1) vom Zentrum für
Gesundheitswissenschaften (2) an der
Universität Frankfurt/Main weist im
Gespräch mit Telepolis darauf
hin, dass die behauptete Kostensteigerung im
Gesundheitswesen schon vor 30 Jahren
ein Thema war und der demographische
Faktor ein weiterer Mythos ist.
Wichtig wären für sie strukturelle
Veränderungen des
Gesundheitssystems, die aber in der geplanten
Gesundheitsreform (3) nicht
vorgenommen werden, weil es hier primär um die
Senkung der Lohnnebenkosten geht. So
heißt es in der Mitteilung der
Bundesregierung, dass der "Faktor
Arbeit und Sozialkosten entkoppelt"
werden, der Gesundheitsfonds komme,
der "aus Beiträgen und Steuermitteln
gespeist" werde, und die
private Krankenversicherung erhalten bleibe.
Über
die Gesundheitsreform (4) wird auch nach der Koalitionsrunde
heftig weiter
gestritten. Was ist der Kern dieser Auseinandersetzung?
Nadja
Rakowitz: Die
Vorschläge der Regierungsparteien sind im Kern ein neoliberales
Projekt, weil das erklärte Ziel
lediglich die Senkung der Lohnnebenkosten
ist. Es geht also darum, die
Arbeitgeber bzw. das Kapital finanziell zu
entlasten und die Kosten den
Versicherten bzw. Patienten aufzubürden. Bei der sogenannten
Kostenexplosion handelt es sich
aber um einen zählebigen
Mythos. Schon in den 70er Jahren warnte der Spiegel
vor einer Explosion der Kosten im
Gesundheitswesen - und seitdem ist die
Debatte fast die gleiche geblieben.
Dabei zeigen alle Statistiken, dass die
Ausgaben der GKV seit 30 Jahren
durchschnittlich 6-7
% des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Die Ausgaben steigen also bloß
parallel zum Bruttosozialprodukt.
Von steigenden Kosten kann höchstens die
Rede sein bei den Beitragszahlern
und noch mehr: bei den Patienten. Die sind
aber nicht gemeint, wenn in der
Öffentlichkeit von der "Kostenexplosion"
gesprochen wird.
Heute
kommt aber doch der demographische Faktor
hinzu.
Nadja
Rakowitz: Das
ist ein weiterer Mythos. Er argumentiert, dass alte Menschen häufiger
krank seien. Das stimmt allerdings
so nicht unbedingt, sondern nur für die
unteren sozialen Schichten und nicht
für die Menschen aus den Oberschichten,
die können sehr gesund sehr alt
werden. Es wäre hier also eher über die
Lebens- und vor allem
Arbeitsbedingungen der Menschen zu diskutieren,
anstatt über ihr bloßes
Alter. Außerdem zeigen empirische Studien aus
verschiedenen Ländern, dass das
Lebensalter nicht generell ein Kostenfaktor
ist.
Ein
weiteres gewichtiges Argument gegen das demographische Argument ist
die historische
Entwicklung. Die Gesellschaft in Deutschland hat zwischen 1900
und 2000 einen viel größeren
demographischen Wandel hinter sich gebracht,
als er für die nächsten 50
Jahre prognostiziert wird. Im Jahr 1900 kamen auf
eine 65-jährige Person 12
Erwerbstätige, 2000 waren es nur noch 4. Ein
erheblicher Teil dieses Wandels fand
erst in den 50er und 60er Jahren statt.
Trotzdem wurde in dieser Zeit der
Sozialstaat aus- und nicht abgebaut -
allerdings unter anderen
ökonomischen Bedingungen: Vollbeschäftigung,
Reallohnzuwächse etc. Das
zeigt, dass es den Sachzwang Demographie so nicht
gibt. Das Problem muss als soziales
und ökonomisches diskutiert werden.
Sind
die Unterschiede zwischen SPD und Union taktisch oder gibt es da noch
unterschiedliche Positionen?
Nadja
Rakowitz: Es
geht bei den Differenzen vor allem um die Fragen der
Steuerfinanzierung. Die
SPD plädiert für eine stärkere Einbeziehung der
Steuern. Doch selbst dadurch
würde eine soziale Schieflage nicht aufgehoben, weil heute das
Steueraufkommen zum großen
Teil von den Lohnabhängigen aufgebracht wird.
Man darf nicht vergessen, dass die
aktuelle Gesundheitsreform einen
Vorläufer hat. Schon die
rot-grüne Bundesregierung hat eine
Gesundheitsreform auf dem Weg
gebracht, die die Unternehmen um 0,9 %-Punkte
beim Beitragssatz entlastet. Diese
Regelung trat im Juli 2004 in Kraft.
Diese massive Entlastung der
Kapitalseite ging weitgehend ohne Proteste von
Seiten der Gewerkschaften über
die Bühne. Aber auch beim Zustandekommen
dieser Reform spielten die
Gewerkschaften nicht gerade die Rolle des
Kritikers. Es gab ein regelrechtes
Stillhalteabkommen zwischen dem DGB und
den Mitgliedsgewerkschaften, weil
man der SPD nicht "in den Rücken" fallen
wollte.
Kritische
Ärzte warnen (5) vor einer neuen Klassenmedizin (6)
durch die aktuelle
Gesundheitsreform. Ist das Panikmache oder Realität?
Nadja
Rakowitz: Empirische
Untersuchungen zeigen ganz klar, dass soziale Ungleichheit und
Krankheit zusammenhängen. Z.B.
leben Menschen mit Abitur im Durchschnitt 3
Jahre länger. Die Regelungen
der letzten Gesundheitsreform wirkten sich
tendenziell verschärfend auf
das Verhältnis von Ungleichheit und Gesundheit
aus. Und Gesundheitsreformen, deren
oberster Zweck die Entlastung der
Arbeitgeber ist, zeigen meines
Erachtens deutlich den Klassencharakter
solcher Politik. Die Klassenfrage
ist also nicht bloß eine zwischen
gesetzlich und privat
Versicherten.
Sie
wenden sich gegen eine Politik der Sachzwänge. Wo sind die
Alternativen?
Nadja
Rakowitz: Es
ist eine Frage der sozialen Kräfteverhältnisse. Wenn es
massenhaft Druck auf
der Straße gäbe, wäre eine andere Politik durchaus
auch im Gesundheitswesen
möglich. Es gibt verschiedene Alternativkonzepte. Die
Gewerkschaften haben Konzepte einer
Bürgerversicherung in der Schublade.
Allerdings habe ich den Eindruck,
dass die Gewerkschaften diese Konzepte zur
Zeit nicht forcieren. Auch die
Attac-Kampagne "Gesundheit ist keine Ware"
scheint zur Zeit eher zu versanden.
So haben wir es hier mit der paradoxen
Situation zu tun, dass es keinen
nennenswerten gesellschaftlichen Widerstand
gegen die neoliberale
Gesundheitsreform gibt, obwohl in weiten Kreisen der
Bevölkerung - das ist zumindest
mein Eindruck - die Meinung verbreitet ist,
Gesundheit müsse ein letztes
Refugium darstellen, welches nicht völlig der
kapitalistischen Logik unterworfen
werden soll.
Wie
könnten Eckpunkte einer anderen Gesundheitsreform
aussehen?
Nadja
Rakowitz: Auf
finanzieller Seite könnte es sicher eine konsequente
Bürgerversicherung kombiniert
mit der Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze und der privaten
Versicherungen als Vollversicherung
sein. Doch vor allem dürfen die
strukturellen Probleme nicht
vernachlässigt werden. Da wäre die
pharmazeutische Industrie eben so in
den Blick zu nehmen wie die Hersteller
der medizinischen Geräte und
deren Verteilung. Die Medizin in Deutschland
ist sehr gerätefixiert und dies
wird durch die doppelte Facharztschiene
strukturell gefördert. Die
Nachfrage nach alle diesen Leistungen wie Röntgen ist allzuoft
angebotsinduziert, d.h. von den
interessierten Ärzten veranlasst, nicht weil
die Patienten eine
"Freibiermentalität" haben. Es gibt in Deutschland
sowohl eine
sehr hohe Ärztedichte als auch eine überproportional hohe
Rate an solchen
technischen Leistungen, die ja nicht nur gesundheitsförderlich
sind.
Auch
die Strukturen der Ärzte wie die Kassenärztliche
Vereinigung oder die Hierarchien
im Krankenhaus dürfen bei einer grundsätzlichen Reform
nicht ausgespart
werden. Warum nicht mal wieder über das "klassenlose
Krankenhaus" nachdenken?
Doch solche Maßnahmen wären gegen die starken
Lobbyverbände nur durch
einen massiven Druck von unten durchzusetzen, der zur Zeit nicht in
Sicht ist. Im Moment werden diese
Strukturen eher in eine andere - noch viel
problematischere Richtung -
aufgeweicht: nämlich durch
eine Unterwerfung des Gesundheitswesens unter die
kapitalistische Logik z.B. in
Gestalt von Medizinischen Versorgungszentren
und Krankenhäusern, die
privates Eigentum von Großkonzernen sind, und wir
können uns sicher sein, dass
dies die Verhältnisse im Gesundheitswesen
dramatisch zuungunsten der Armen,
Schwachen und Kranken verändern wird. - Peter
Nowak 03.07.2006
LINKS
(1)
http://www.klinik.uni-frankfurt.de/zgw/medsoz/Mitarb/Mitarbeiter2.htm
(2)
http://www.klinik.uni-frankfurt.de/zgw/medsoz/Mitarb/Mitarbeiter2.htm
(3)
http://www.bundesregierung.de/-,413.1026602/artikel/Durchbruch-bei-der-Gesundheits.htm
(4)
http://www.handelsblatt.com/Politik/Deutschland/pshb/fn/relhbi/sfn/build
hbi/cn/GoArt!200013,200050,1102132/SH/0/depot/0/die-fuenf-eckpunkte-der-
gesundheitsreform.html
(5)
http://www.wz-berlin.de/ars/ph/leute/rosenbrock.de.htm
(6)
http://www.taz.de/pt/2006/07/01/a0240.1/text
Quelle: Telepolis
Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/23/23019/1.html