Bürgerversicherung – Gesundheitsprämien - Alternativen
Vortrag von Daniel Kreutz, SoVD
Die aktuelle politische Diskussion über Modelle der Bürgerversicherung einerseits und der Kopfpauschalen oder Gesundheitsprämien andererseits wurde ausgelöst von den beiden entsprechenden Vorschlägen aus der Rürup-Kommission zur langfristigen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung im April letzten Jahres. Seither transportiert die öffentliche Diskussion das Bild, dass wir es da mit einer Richtungsalternative zu tun hätten, wobei das Konzept der Bürgerversicherung grundsätzlich an Solidarität und sozialer Gerechtigkeit orientiert sei, während das Modell der Gesundheitsprämien die neoliberal inspirierte Option sei. Dieses Bild wird gestützt dadurch, dass sich um das Gesundheitsprämien-Modell ziemlich rasch ein Spektrum von CDU/CSU über die Arbeitgeberverbände bis hin zu radikalen neoliberalen Gruppierungen wie der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ sammelte, während die Bürgerversicherung von Rot-Grün und den Gewerkschaften unterstützt wird.
Im Folgenden will ich versuchen, verständlich zu machen, warum dennoch dieses Bild einer Polarisierung zwischen sozialer Gerechtigkeit und Neoliberalismus bei diesem Thema so nicht zutreffend ist. Und schließlich will ich einige Hinweise dazu geben, welche Anforderungen an eine Konzeption zu stellen wären, die den Anspruch einer sozialen und sozialstaatlich ausgerichteten Alternative einlösen will.
Der Aufschlag der Rürup-Kommission
Die Rürup-Kommission verfolgte als Ganze die gemeinsame Zielsetzung, die „Lohnzusatzkosten“ zu begrenzen und die Bindung der Sozialversicherung an die Arbeitskosten zu lockern – eine Zielsetzung, die sich aus den ganzen bekannten Gespensterdiskussionen um Globalisierung und Wettbewerbsfähigkeit, zu hohen Arbeitskosten und zu hohen Lohnnebenkosten herleitet und vorgibt, durch die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge einen Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung herbeiführen zu wollen. Die Kommission als Ganze hatte den Auftrag, Vorschläge für die kurz- und langfristige Umsetzung dieser neoliberal inspirierten Strategie zu machen. Es ging gemeinsam darum, wie der Beitrag der Wirtschaft, der Arbeitgeber, zur Sozialversicherung im Allgemeinen und zur Gesetzlichen Krankenversicherung im Besonderen reduziert werden kann. Zu den gemeinsamen Grundsätzen der Kommissionsempfehlungen gehört denn auch die Orientierung auf mehr Markt und Wettbewerb im Gesundheitswesen und auf mehr Eigenverantwortung, will heißen: auf die Privatisierung von Krankheitsrisiken.
In kurzfristiger Perspektive hat die Kommission zunächst Sparoperationen in Form von Zuzahlungen und Leistungsausgrenzungen vorgeschlagen – also gezielte Mehrbelastungen für Kranke und Versicherte, wie sie im Wesentlichen mit der Gesundheitsreform ab 1. Januar auch umgesetzt wurden.
Diese Gesundheitsreform hat ja bekanntlich drei Stufen:
- ab 2004 massive Mehrbelastungen für Kranke,
- ab 2005 Privatisierung der Kosten für Zahnersatz zu Lasten aller Versicherten,
- ab 2006 Privatisierung der Kosten fürs Krankengeld – auch zu Lasten aller Versicherten.
Nach den ausdrücklichen Zielstellungen des parteienübergreifenden Konsenses zur Gesundheitsreform soll dadurch der Arbeitgeberbeitrag bis 2007 auf sechs Prozent gedrückt werden, wie es langjährige Forderung der Arbeitgeberverbände war. Dabei steigt der Arbeitnehmerbeitrag andererseits auf sieben Prozent – weil Zahnersatz und Krankengeld zusätzlich abgesichert werden müssen. Darin sind Zusatzbelastungen der Kranken durch die Leistungsausgrenzungen und Zuzahlungen noch nicht enthalten.
Der Streit in der Rürup-Kommission zwischen Rürup und Lauterbach um die längerfristigen Finanzierungsmodelle ging nun darum, nicht ob, sondern auf welchem Wege der Rückzug der Arbeitgeber aus der Finanzierung nach 2007 fortgesetzt werden kann. Der zunächst gemeinsame Weg gabelte sich also in zwei verschiedene Pfade, die aber gleichwohl zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der gemeinsamen Ziele der Kommission führen sollten, also Reduzierung der Arbeitskosten.
Rürups Gesundheitsprämie
Das Rürup-Modell der Kopfpauschalen oder Gesundheitsprämien sieht vor, die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung vollständig von den Arbeitskosten abzukoppeln und das Risiko künftiger Beitragssatzsteigerungen vollständig den Versicherten aufzuerlegen. Mit der Auszahlung des früheren Arbeitgeberbeitrags als Teil des Bruttolohns wäre das Thema Krankenversicherung für die Arbeitgeber ein für allemal erledigt.
Alle erwachsenen Versicherten sollen dann eine einkommensunabhängige Versicherungsprämie zahlen, die für alle Versicherten einer Kasse gleich hoch ist. Jede Kasse soll aber ihre eigene Prämie kalkulieren, damit die Kassen mit verschiedenen hohen Prämien konkurrieren können. Die Höhe der Prämie errechnet sich dabei grundsätzlich aus den durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben der jeweiligen Krankenkasse. Für den Durchschnitt aller Kassen errechnete Rürup auf Basis der seinerzeit verfügbaren Werte zunächst eine Monatsprämie von 210 Euro, was 9,5 Prozent vom durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen entsprechen soll. Dabei ist klar, das die Belastung um so höher ausfällt, je kleiner das Einkommen, und um so geringer, je höher das Einkommen.
Den Versicherungen soll aber zugleich ermöglicht werden, unterschiedliche Tarife anzubieten, um im Sinne von „mehr Eigenverantwortung“ oder „Wahlfreiheit der Versicherten“ zum Beispiel „Anreize zu gesundheitsbewusstem Verhalten“ zu setzen – also etwa Abschläge für die Teilnahme an Präventionsmaßnahmen oder die Übernahme bestimmter Risiken in „Eigenverantwortung“, oder Zuschläge für eine Absicherung, die über das so genannte „medizinisch Notwendige“ hinausgeht. Rürup betont, dass sich die Krankenversicherung mit dem Modell strikt nach dem Äquivalenzprinzip richte, wie es in der privaten Versicherungswirtschaft gilt. Ein Anspruch auf einen gleichen Umfang von Leistungen setzt da eben eine gleich hohe Prämie voraus. Auch die Gesetzliche Krankenversicherung würde damit stärker denn je nach Mechanismen funktionieren, wie sie bisher für die private Krankenversicherung gelten.
Innerhalb der Krankenversicherung findet kein Solidarausgleich zwischen ärmeren und reicheren Versicherten mehr statt. Weil die hohen Pro-Kopf-Prämien offensichtlich ohne sozialen Ausgleich zu derartigen sozialen Verwerfungen führen würden, die selbst für Neoliberale nicht diskutabel sind, sieht das Rürup-Modell vor, dass es einen steuerfinanzierten Ausgleich gibt, der die Belastungen für niedrige Einkommen begrenzt. Im Kommissionsbericht selbst finden sich jedoch keine Angaben darüber, wie dieser Ausgleich des Näheren aussehen soll, welches Volumen an Steuermitteln dafür erforderlich wäre und wie das dann aufgebracht werden soll. Es gibt allerdings den Hinweis, dass dazu Steuermehreinnahmen eingesetzt werden sollen, die durch die Versteuerung der ausgezahlten früheren Arbeitgeberbeiträge entstehen. Wegen des erheblichen Umfangs der erforderlichen Steuermittel für den Ausgleich steht das Kopfpauschalen-Modell im Verdacht des Utopischen. Oder anders ausgedrückt: die Glaubwürdigkeit des Versprechens, dass es zu einem angemessenen sozialen Ausgleich käme, der auch nicht etwa vorrangig durch Steuererhöhungen zu Lasten unteren und mittleren Einkommen gegenfinanziert würde, ist außerordentlich gering.
Lauterbachs „Bürgerversicherung“
Auch der Gegenvorschlag von Lauterbach unter der Überschrift „Bürgerversicherung“ zielt darauf, den Finanzbeitrag der Arbeitgeber zur Krankenversicherung zu senken und Arbeit billiger zu machen. Dazu will Lauterbach auf der Seite der Versicherten Mehreinnahmen erzielen, mit denen die Absenkung des Beiträge auf Arbeitnehmereinkommen, die für sich genommen paritätisch bleiben, gegenfinanziert wird. Anders ausgedrückt: das Beitragsaufkommen der Versicherten soll im Volumen steigen, damit das Beitragsaufkommen der Arbeitgeber sinken kann. Auch hier wird also der Grundsatz der paritätischen Finanzierung unter dem Strich aufgegeben.
Um bei den Versicherten mehr Geld einzunehmen, hat Lauterbach einige Vorschläge aufgegriffen, die zuvor meist eher im Lager derer verortet wurden, die für soziale Gerechtigkeit eintreten. Die Versicherungspflicht soll die gesamte Wohnbevölkerung und mit Blick auf die Beitragserhebung alle Erwerbstätigen erfassen. Die Versicherungspflichtgrenze entfällt. Auch Bezieher von Einkommen oberhalb der bisherigen Pflichtversicherungsgrenze von gegenwärtig 3.450 Euro monatlich werden pflichtversichert, also etwa auch Selbstständige, Manager, Beamte, Abgeordnete und Minister. Der Kreis der Beitragszahler würde dadurch um Personen mit höheren und hohen Einkommen und eher geringeren Risiken ausgeweitet.
Neben den Erwerbseinkommen sollen auch andere Einkommensarten der Versicherten in die Beitragspflicht einbezogen werden, also Vermögenseinkommen aus Zinsen oder Dividenden oder aus Vermietung und Verpachtung. Der Versichertenbeitrag würde so nicht mehr allein auf das Erwerbseinkommen, sondern auf das effektive Einkommen erhoben. Dadurch kann im Prinzip mehr Belastungsgerechtigkeit zwischen Versicherten mit und ohne zusätzliche Vermögenseinkommen entstehen - allerdings nur im Einkommensbereich bis zur Beitragsbemessungsgrenze (heute 3.450 Euro).
Der Beitragseinzug soll von den Finanzämtern vorgenommen werden, die dabei das steuerpflichtige Gesamteinkommen zu Grunde legen. Von den Finanzämtern sollen die Beiträge über den Risikostrukturausgleich an die einzelnen Kassen fließen. Die Mehreinnahmen aus der Verallgemeinerung des Versichertenkreises und der Verbeitragung aller Einkommensarten sollen kurzfristig eine Senkung des allgemeinen Beitragssatzes um 1,3 Prozent, und langfristig, wenn alle Erwerbstätigen einbezogen sind, um insgesamt 2 Prozent ermöglichen. Die Ausweitung des Versichertenkreises kann wegen des Vertrauensschutzes derjenigen, die zuvor schon privat versichert sind, nur schrittweise im Wege der Aufnahme von neuen Versicherten vollzogen werden.
Für den Zeitraum zwischen 2010 und 2030 schlägt Lauterbach eine schrittweise Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf das in der Renten- und Arbeitslosenversicherung geltende Niveau vor, das sind heute 5.100 Euro. Dabei weist er zum einen darauf hin, dass die mit einer Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze verbundene Mehrbelastung der Unternehmen durch die vorherige Senkung der Beitragssätze - in Folge der Verbeitragung anderer Einkommensarten und die Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten - bereits kompensiert wäre. Zum anderen erwartet er von den Beitragssatzsenkungseffekten der höheren Beitragsbemessungsgrenze eine Förderung von Unternehmen, die im Niedriglohnsektor tätig sind; mit Entgeltstrukturen, die sich insgesamt unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze bewegen.
Bei den Versicherten kommt es zwar unterhalb dieser Grenze zu einer gerechteren Umverteilung von Beitragslasten. Aber die höheren, hohen und höchsten Erwerbs- und Vermögenseinkommen bleiben nach wie vor gänzlich außen vor.
Wie schon bisher sinkt bei den Einkommen oberhalb der angehobenen Beitragsbemessungsgrenze die Beitragsbelastung umso stärker, je höher das Einkommen ist – ein Mechanismus, der mit dem Gedanken einer solidarischen Finanzierung entsprechend der wirtschaftlichen Belastbarkeit ganz grundsätzlich widerspricht. Daran will Lauterbachs Bürgerversicherung nichts ändern.
Der Wegfall der Versicherungspflichtgrenze bedeutet nicht etwa das Aus für die privaten Krankenversicherungen. Sie sollen zwar verpflichtet sein, auch im Bereich der Pflichtversicherung in gleicher Weise wie die gesetzlichen Kassen tätig zu werden. Darüber hinaus können sie aber auch weiterhin Zusatzversicherungen oder Leistungspakete mit erhöhtem Umfang anbieten. Und ihre Tätigkeit bleibt insgesamt auf Gewinnerwirtschaftung ausgerichtet.
Die Abgrenzung zwischen dem, was in den gesetzlichen Leistungsumfang fällt und dem, was darüber hinaus als freiwillige Zusatzversicherung angeboten werden kann, liegt im Begriff des*„medizinisch Notwendigen“*. Der Auftrag der GKV bezieht sich ja schon bisher auf die Absicherung des „medizinisch Notwendigen“, nicht mehr und nicht weniger. Wie aber die Entwicklung des Leistungskatalogs in der Vergangenheit zeigt, unterliegt der Begriff des „medizinisch Notwendigen“ der Definitionsmacht der Politik. Der ganze Kostenberg an Zuzahlungen und Leistungsausgrenzungen, der mittlerweile auf den Kranken lastet, zählt per Definition nicht zum „medizinisch Notwendigen“. Dieser politisch gestaltbare Begriff markiert auch bei Lauterbach die Grenze, jenseits derer das Privatgelände der privaten Versicherungswirtschaft liegt, auf dem sich nach wie vor die erste Klasse der Versicherten aufhält.
Die Abschaffung der Pflichtversicherungsgrenze ist nicht nur nicht das Aus für die Privaten. Sondern dadurch entsteht erst ein einheitlicher Krankenversicherungsmarkt, auf dem dann die privaten und die bisherigen gesetzlichen Krankenversicherer zu gleichen Wettbewerbskonditionen gegeneinander konkurrieren. Bisher kann der Wettbewerb zwischen Privaten und Gesetzlichen nur um Versicherte mit Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze gehen. Mit Lauterbachs „Bürgerversicherung“ ginge er für beide grundsätzlich um alle Versicherten. Der Wettbewerb zwischen den Privaten ist bisher begrenzt auf das Neukundengeschäft, weil bisher der bei einer privaten Versicherung aufgebaute Kapitalstock nicht zu einer anderen Privatversicherung mitgenommen werden kann (nicht „portabel“). Im Zusammenhang mit der Bürgerversicherung wird daher auch darüber diskutiert, wie die Portabilität von Kapitalstöcken hergestellt werden kann.
Unter dem Wettbewerbsdruck auf einem einheitlichen Markt wird es zu einer Angleichung von gesetzlichen und privaten Kassen kommen. Die Privaten werden den Gesetzlichen dadurch ähnlich, dass sie für alle auch die Absicherung zu den gesetzlichen Konditionen anbieten und dabei auf risikoabhängige Beiträge verzichten müssen. Die Beschränkung auf die risikoarme Klientel der Besserverdienenden entfällt. Die Gesetzlichen werden den privaten ähnlich dadurch, dass sie sich im Wettbewerb - mit den Privaten und gegeneinander; sowohl um normale Versicherte als auch auf dem Markt der Luxusversorgung - zu behaupten haben. Das Gewicht unterschiedlicher Leistungspakete, Bonussysteme und anderer Wettbewerbsinstrumente nach dem Motto „mehr Wahlfreiheit“ wird wachsen.
Soweit zum so genannten „Ypsilon-Modell“ der Rürup-Kommission, in dem sich gemeinsame Vorschläge zur kurz- und mittelfristigen einseitigen Entlastung der Arbeitgeber mit zwei alternativen Varianten zur langfristigen Fortsetzung des Gleichen verbunden haben. Es liegt auf der Hand, dass Rürups Prämienmodell dabei gleichsam die radikale neoliberale Variante darstellt und Lauterbachs Bürgerversicherung die moderate.
Bei Lauterbach bleibt der Ausgleich zwischen niedrigen und höheren Versicherteneinkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze noch im Krankenversicherungssystem, statt mit zweifelhaften Versprechungen in die Steuertransfers ausgelagert zu werden. Und ein Schein paritätischer Finanzierung wird noch gewahrt, weil der Beitrag auf Arbeitsentgelte abhängig Beschäftigter weiterhin aus Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeitrag besteht. Das Risiko von Beitragssatzsteigerungen wird nicht vollständig, sondern nur zu einem Teil auf die Versicherten überwälzt.
Allerdings unterscheiden sich beide Modelle auch hinsichtlich der Praktikabilität. Der radikale Systemwechsel zum Kopfpauschalen-System wäre ziemlich hochschwellig, insbesondere auch hinsichtlich der Akzeptanz in der Bevölkerung. Man könnte sagen, es handele sich heute noch um eine neoliberale Utopie. Die Bürgerversicherung wäre dagegen leichter umsetzbar, weil sie weitaus stärker an das bestehende System anknüpft. Unter Akzeptanzgesichtspunkten würde der Umstieg auch umso leichter werden, je mehr die Gesundheitsprämie als unsoziale Bedrohung wahrgenommen wird.
Herzog-Kommission: modifizierte Gesundheitsprämie
In der weiteren parteipolitischen Diskussion wurden beide Modelle teils verändert und teils mit zusätzlichen Aspekten versehen. Die Herzog-Kommission der CDU hat grundsätzlich an Rürup angeknüpft, aber dabei insbesondere folgende Modifikationen eingebaut.
- Auch Herzog will alle Einkünfte der Versicherten bis zur Beitragsbemessungsgrenze verbeitragen, um, so wörtlich, „den Faktor Arbeit besser entlasten zu können“.
- Von einem auf 6,5 Prozent festgeschriebenen Arbeitgeberbeitrag nach bisherigem Recht sollen 5,4 Prozent als Lohn ausgezahlt werden, während die Arbeitgeber mit den verbleibenden 1,1 Prozent die Finanzierung des Krankengelds übernehmen sollen. In dem Punkt sieht Herzog sozialer aus als Rot-Grün, die sich ja mit der CDU darauf geeinigt haben, dass das Krankengeld allein von den Versicherten bezahlt werden soll.
- Dann soll innerhalb von 10 Jahren der Umstieg auf das Kopfpauschalen-Modell erfolgen. In diesen 10 Jahren soll aus den Beiträgen der Versicherten ein Kapitalstock als so genannte „Altersrückstellung“ aufgebaut werden. Damit sollen die Kopfprämien für die über 45-Jährigen hinterher konstant gehalten werden, auch wenn versicherungsmathematisch nach dem Äquivalenzprinzip mit steigenden Altersrisiken die Prämien steigen müssten.
Für den Umstieg im Jahre 2013 will Herzog eine Einstiegsprämie von 264 Euro monatlich errechnet haben. Den steuerfinanzierten Sozialausgleich für untere Einkommen veranschlagt er mit 27,5 Milliarden Euro pro Jahr.
CDU-Beschlussfassung
Erneute Veränderungen am Modell Rürup-Herzog hat der Leipziger CDU-Parteitag vom Dezember 2003 vorgenommen. Da wurde beschlossen, der Systemwechsel zur Gesundheitsprämie so schnell wie möglich zu vollziehen, also ohne 10jährige Übergangsfrist. Dabei wurde behauptet, die Prämie betrage 200 Euro – 10 Euro billiger als Rürup. 10 Prozent davon sollen in den Kapitalstock Altersrückstellung fließen. Für Kinder, die für die Versicherten selbst wie bei Rürup beitragsfrei bleiben sollen, soll andererseits die Kindergeldstelle 90 Euro monatlich zuschießen.
Die Belastung durch die Prämie soll bis zu 15 Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens erreichen. Eine Mehrbelastung der Versicherten bis zu dieser Grenze sei „vertretbar“. Die Einkommensgrenze, bis zu der es was vom steuerfinanzierten Sozialausgleich geben soll, wird mit 1.400 Euro bei Alleinstehenden und dem doppelten bei verheirateten Alleinverdienern beziffert. Auf Angaben zur Gegenfinanzierung des steuerlichen Ausgleichs hat die CDU vollständig verzichtet; der Beschluss gibt auch keine Schätzung des erforderlichen Transfervolumens. Sachverständige haben errechnet, dass das um die 40 Milliarden Euro pro Jahr liegen müsste.
SPD-Beschlussfassung
Der Bochumer Parteitag der SPD im November 2003 hat seinerseits Grundsatzbeschlüsse zur Bürgerversicherung gefasst. Interessant ist dabei, dass die SPD einleitend die hochwertige medizinische Versorgung als einen „Zukunftsmarkt“ charakterisiert, dessen Wachstumschancen genutzt werden müssten, ohne den Faktor Arbeit durch höhere Beiträge zu belasten. Will heißen: die Finanzierung des Wachstums soll einseitig von den Versicherten erbracht werden. Ausdrücklich wird festgestellt: „Auch private Vorsorge muss in einem zukunftsfähigen Gesundheitssystem eine größere Rolle spielen.“ Und: „Anreize im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung können diese Entwicklung unterstützen.“ Ebenso ausdrücklich steht da: „Am Nebeneinander von gesetzlichen Kassen und privaten Krankenversicherungen halten wir dabei fest, weil wir den Wettbewerb wollen.“
Eine nicht ganz unbedeutende konzeptionelle Veränderung gegenüber Lauterbach ist aber, dass die SPD die Verbeitragung von Vermögenseinkommen ablehnt. Damit bezieht sich die Einbeziehung anderer Einkommensarten nur auf die Erwerbseinkommen von Selbständigen und Beamten. Außerdem beschloss die SPD, dass zur Verbeitragung von Einkommen der Selbstständigen und Beamten der halbe Beitragssatz erhoben werden soll. Sie sollen also nur den Arbeitnehmerbeitrag bis zur Beitragsbemessungsgrenze zahlen. Gleichwohl soll der Beitragssatz im Ergebnis um ca. 1,5 Prozent sinken.
Eckpunkte einer sozialen Alternative
Es ist vielleicht deutlich geworden, dass die bisher unter den Überschriften Gesundheitsprämie und Bürgerversicherung gehandelten Konzepte tatsächlich nur zwei Wege zum gleichen vorrangigen Ziel darstellen, nämlich der weitergehenden Entlastung der Arbeitgeber. Was könnten nun Eckpunkte eines Konzepts sein – ich nenne es mal „Bürgerversicherung Plus“ - das stattdessen Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit und der Sozialstaatlichkeit Rechnung trägt?
Erstens müsste eine solche Konzeption maßgeblich auf eine Erneuerung der paritätischen Finanzierung zielen. Der Grundsatz der Parität ist nicht irgendwas. Es handelt sich immerhin um einen unmittelbaren Ausfluss des Verfassungsgrundsatzes von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Zu den Grundsätzen des „rheinischen“ Sozialstaats zählte eben, dass die Kapitalseite zur Hälfte für die Finanzierung von sozialer Sicherheit gegenüber den großen Lebensrisiken zuständig ist. Wenn also zur Stärkung der Finanzbasis der Gesetzlichen Krankenversicherung durch die Verbeitragung aller Markteinkommen – auch der Vermögenseinkommen - Mehreinnahmen auf Seiten der Versicherten erzielt werden, muss es andererseits einen zusätzlichen Beitrag der Kapitalseite geben. Nur dadurch kann erreicht werden, dass das Risiko künftiger Beitragssatzsteigerungen nicht überwiegend bei den Versicherten landet.
Dazu wäre eine ergänzende Wertschöpfungsabgabe der Unternehmen einzuführen, die als Beitrag von der betrieblichen Bruttowertschöpfung erhoben wird. Das wäre gleichsam auch eine Kompensation dafür, dass die Dauerkrise der Finanzierung der GKV letztlich darauf zurückzuführen ist, dass die beitragspflichtige Entgeltsumme seit über einem Vierteljahrhundert sinkt, während die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen spiegelbildlich steigen – wegen Massenerwerbslosigkeit, zunehmender prekärer Beschäftigung und zurückbleibender Entwicklung der Tarifentgelte. Ein solcher ergänzender Beitrag der Wirtschaft ist bereits in den späten siebziger Jahren unter dem Begriff „Maschinensteuer“ diskutiert worden.
Zweitens muss der Grundsatz der Belastungsgerechtigkeit und der Solidarität bei der Beitragserhebung konsequent zum Tragen kommen. Dazu wäre neben der Verbeitragung von Vermögenseinkommen auch eine schrittweise Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze vorzusehen. Auch hohe und höchste Einkommen sind mit dem gleichen Prozentsatz wie die untersten sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmereinkommen zu beteiligen. Der erste Schritt wäre die sofortige Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der Renten- und Arbeitslosenversicherung, aber dabei darf es nicht stehen bleiben. Auch in den anderen Zweigen der Sozialversicherung ist die Beitragsbemessungsgrenze ein sachlich nicht begründbarer Bruch mit dem Solidarprinzip – gleichsam eine Solidaritätsfluchtgrenze.
Drittens muss sichergestellt werden, dass die Mehreinnahmen, die der Krankenversicherung zufließen, vorrangig für Leistungsverbesserungen eingesetzt werden. Für Leistungsverbesserungen, die den umfassenden und gleichen Versicherungsschutz für alle sicherstellen, ohne Naturschutzgebiete für Privatversicherer. Da geht es darum,
- dass die einseitigen Kostenabwälzungen auf Kranke in Gestalt der Zuzahlungen und Leistungsausgrenzungen sowie die auf Versicherte – Zahnersatz, Krankengeld und volle Beitragsbelastung von Rentnern - zurück genommen werden;
- dass seit langem beklagte Lücken im Leistungskatalog geschlossen werden – etwa in der Suchtkrankenhilfe, der häuslichen Krankenpflege oder der ambulanten psychiatrischen Versorgung;
- und insbesondere um Investitionen auf breiter Front in Prävention und Gesundheitsförderung.
Soweit dann noch Mittel frei bleiben, können sie nachrangig zur Senkung des Beitragssatzes eingesetzt werden.
Viertens sollte die Vorstellung der gesetzlichen Krankenversicherung als kapitalistischem Wettbewerbsmarkt grundsätzlich abgelehnt werden. Warum sollen Hunderte von Krankenversicherungsträgern in einen Wettbewerb gegeneinander getrieben werden, dessen zerstörerische Dynamik über ein kompliziertes System des Risikostrukturausgleichs gleichsam nachsorgend eingehegt werden muss? Wäre es nicht bedeutend sinnvoller, Marketingkosten und Verwaltungskosten dadurch zu reduzieren, dass Kurs auf die Schaffung eines einheitlichen Trägers der Gesetzlichen Krankenversicherung genommen wird, wie das bei der Arbeitslosenversicherung schon immer war und wie es gegenwärtig bei der Gesetzlichen Rentenversicherung entwickelt wird?
Eine „Bürgerversicherung Plus“ mit den vor genannten Eckpunkten wäre meines Erachtens eine soziale Richtungsalternative sowohl zur Vorstellung der Gesundheitsprämie als auch zu den Bürgerversicherungskonzepten, wie sie bisher diskutiert werden.
Aufklärerische Intervention
In den kommenden Wahlkämpfen wird das Thema „Bürgerversicherung gegen Gesundheitsprämie“ von Rot-Grün dazu genutzt werden, den Anschein eines Lagerwahlkampfs gegen Schwarz-Gelb zu inszenieren. Das Entsetzen über das unsoziale Gesundheitsprämien-Modell soll die WählerInnen dazu bewegen, für die „Bürgerversicherung“ als die „soziale Alternative“ oder zumindest das „kleinere Übel“ zu optieren. Allerdings lehrt die Erfahrung, dass kleinere Übel meist keine Alternative zum größeren Übel darstellen, sondern sich allzu oft eher als dessen Steigbügelhalter erweisen. Es ist durchaus eine Entwicklung vorstellbar, in der der Wechsel zur „Bürgerversicherung Minus“ die Plattform für einen weiteren Umstieg zur Gesundheitsprämie schafft.
Die politische Intervention der sozialen Bewegungen sollte demgegenüber in aufklärerischer Absicht deutlich machen, dass es auch bei den bisherigen Bürgerversicherungskonzepten zum einen darum geht, entsprechend des neoliberalen Diskurses, dass Arbeit billiger werden müsse, unter Missachtung des Grundsatzes von der Parität die weitere Entlastung der Arbeitgeber zu organisieren, und zweitens um die Fortsetzung des Umbaus der sozialen Sicherungssysteme nach dem Muster ökonomischer Wettbewerbsmärkte. Man kann auch verallgemeinernd sagen, dass Bürgerversicherung im parteipolitischen Raum bisher nicht gedacht ist als Gesundheitspolitik, sondern als neoliberal inspirierte Wirtschaftspolitik
Im Sinne von Alternativen für soziale Gerechtigkeit sollten wir dabei für ein anders ausgerichtetes Konzept von Bürgerversicherung oder eine „Bürgerversicherung Plus“ eintreten, mit der die Kapitalseite wieder angemessen in die Finanzierung eingebunden wird und vorrangig die Leistungsfähigkeit der GKV bei der umfassenden Risikoabsicherung für alle gestärkt wird.
Quellen:
Abschlussbericht der Rürup-Kommission
Karl Lauterbach, Das Prinzip der Bürgerversicherung, in: Ursula Engelen-Kefer (Hg.), Reformoption Bürgerversicherung, VSA-Verlag, Hamburg 2004
Unser Weg in die Zukunft, Beschluss des Bochumer SPD-Parteitags vom November 2003
Abschlussbericht der Herzog-Kommission
Deutschland fair ändern, Beschluss des Leipziger CDU-Parteitags vom Dezember 2003