Die neue kurze Vollzeit
Sozialforscher und Attac fordern Umverteilung von Arbeit mit Lohnverzicht und Steuernachteil für Workaholics. Thema im Wahlkampf leider "tabu"
VON ULRIKE WINKELMANN
Fünf Millionen sitzen auf der Straße, alle anderen ächzen unter Überarbeitung: Sinnvoll ist das nicht. Das findet eine Gruppe von Wissenschaftlern und Gewerkschaftern aus dem links engagierten Spektrum um das globalisierungskritische Netzwerk Attac. Deshalb haben sie einen Aufruf zur "solidarischen Umverteilung von Arbeit" initiiert, der als "Intervention über den Wahltermin hinaus" gedacht ist.
Arbeitslosigkeit sei vor allem Folge der wachsenden Produktivität, erklärte der Bremer Arbeitsmarktforscher Helmut Spitzley gestern. Es sei ein Fehler, zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf Wachstum zu setzen. Denn die nötigen Wachstumsquoten von vier Prozent und mehr pro Jahr werde die deutsche Volkswirtschaft nie mehr erreichen. Deshalb setzt die Initiative auf eine "Vollbeschäftigung neuen Typs": die 30-Stunden-Woche. "Diese ,kurze Vollzeit' soll keine stalinistisch durchzusetzende Vorschrift sein", sagte Spitzley, sondern eine "gesellschaftliche Zielmarke".
Den prominentesten Streitpunkt beim Thema Arbeitszeitverkürzung, den Lohnausgleich, will die Initiative sozial staffeln: Gutverdiener sollen für weniger Arbeit auch weniger Geld bekommen, Geringverdiener dagegen nicht verzichten müssen. Flankiert werden soll die "Arbeitsfairteilung" durch eine europaweite Absprache, Förderung von Teilzeit, Pflege- und Kinderjahren, Mindestlohn und einen Steuernachteil für Vielarbeiter.
Der Berliner Soziologe Peter Grottian erklärte, Arbeitsumverteilung sei zu Unrecht das "Schmuddelkind" im Wahlkampf. Auch die Linkspartei sei "für eine radikale Partei erstaunlich unradikal", wenn sie in ihrem Programm bloß den Gewerkschaften "Unterstützung" bei der Arbeitszeitverkürzung verspreche. Peter Strotmann von Attac Berlin sagte, das Thema sei offenbar ein "Tabu", das es bloß zu brechen gelte.
Doch hat sich bei den meisten Arbeitsmarktpolitikern die Ansicht durchgesetzt, dass Arbeit kein aufzuteilender Kuchen ist, sondern dass Art und Menge der angebotenen Jobs davon abhängen, wie billig menschliche Arbeitskraft ist. Deshalb bastelt die Politik an Modellen für einen Niedriglohnsektor für die besonders von Arbeitslosigkeit bedrohten Geringqualifizierten. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverzicht aber würde den Preis der Arbeit erhöhen.
Spitzley erklärte dazu, auch sämtliche Niedriglohn-Ideen seien "stark umstritten". Grottian sagte, die Fixierung auf den Niedriglohnsektor setze "zu weit unten" an: Umverteilungsbereitschaft gelte es in der ganzen Gesellschaft zu wecken. Strotmann sagte: "Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Durchsetzungsproblem."
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Quelle: taz vom 26.8.2005