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Bescheidenheit verordnet

Sozialgericht Berlin faellte Praezedenzurteil: Arbeitslosengeld II angeblich verfassungsgemaess. Berufung angekuendigt

von Daniel Behruzi

Wer gehofft hatte, die dritte Gewalt werde der staatlich verordneten Armut per "Hartz IV" einen Riegel vorschieben, sieht sich eines Besseren belehrt. Im ersten veroeffentlichten Praezedenzurteil wies das Berliner Sozialgericht am Dienstag die Klage einer 55jaehrigen Frau ab, die sich gegen die geringe Hoehe des Arbeitslosengeldes II (ALG II) zur Wehr gesetzt hatte.

Seit 1991 ist Margitta Czyzewski, die zuvor als technische Zeichnerin taetig war, fast durchgehend arbeitslos. Im September letzten Jahres beantragte sie das neu geschaffene ALG II, dessen monatlicher Regelsatz in Westdeutschland (einschliesslich Berlin) bei 345, im Osten bei 331 Euro liegt. "Dieser Regelsatz ist verfassungswidrig", glaubt Ilka Pflantz von der DGB Rechtsschutz GmbH, die Czyzewski im Prozess vertrat. Er verstosse sowohl gegen die im Grundgesetz festgeschriebene Menschenwuerde als auch gegen das Sozialstaatsgebot, argumentierte sie. "Menschenwuerdiges Leben bedeutet die Sicherung meiner Existenz, ohne dass ich darauf angewiesen bin, zu betteln und zu stehlen", betonte Pflantz gegenueber junge Welt. Auch die Teilnahme am kulturellen Leben sei darin eingeschlossen. Zwar sei die Pauschalierung der Zahlungen moeglich, dies muesse aber "offen, transparent und nachvollziehbar" sein. Dem derzeitigen Regelsatz liege jedoch "keine statistische Bedarfsermittlung und keine regionale Abstimmung, ausser die Unterteilung in Ost- und Westdeutschland" zugrunde, so die Klagebegruendung. Die Teuerung werde ebenso ignoriert wie gestiegene Ausgaben infolge der "Gesundheitsreform".

Die 63. Kammer des Berliner Sozialgerichts und ihr Vorsitzender Richter Jochen Rakebrand liessen sich von solchen Argumenten indes nicht beeindrucken. Zwar sehe man, "dass die Regelbemessung sehr knapp ausgefallen ist", sie sei jedoch "an einer bescheidenen Lebensfuehrung orientiert". Vor diesem Hintergrund sei die 345-Euro-Pauschale "nicht zu beanstanden", so Rakebrand. Allerdings plaedierte er dafuer, die Ausnahmevorschriften bei eventuellen Notlagen weit auszulegen. Bei "unabweisbarem Bedarf" kann das Job-Center fuer besondere Ausgaben ein Darlehen zur Verfuegung stellen, dessen Tilgung ausgesetzt oder aufgehoben werden kann.

Auf solche Ausnahmen wollen sich die Rechtsexperten des DGB nicht verlassen. Bei acht entsprechenden Urteilen sei man in die, auch in diesem Fall zugelassene, Berufung gegangen, berichtete Pflantz. "Letztlich wird diese Frage vor dem Bundesverfassungsgericht landen", ist sie sich sicher. Das duerfte allerdings noch Jahre dauern, wie der Pressesprecher des Berliner Sozialgerichts, Michael Kanert, auf jW-Nachfrage bestaetigte. Zunaechst werde das Landessozialgericht ueber die vorliegenden Faelle entscheiden. Aber auch die oertlichen Gerichte werden die Auswirkungen von "Hartz IV" weiter beschaeftigen. Das Berliner Sozialgericht verzeichnete allein in der ersten Jahreshaelfte 2736 Verfahrenseingaenge zu diesem Thema. "Die grosse Klagewelle steht unserer Einschaetzung nach aber noch aus", erklaerte Kanert.

Ebenfalls am Dienstag wurde ein weiteres Urteil zu diesem Komplex bekannt. Das rheinland-pfaelzische Landessozialgericht hatte die Einsicht, dass eine Familie mit Baby ein Kinderbett und einen Kinderwagen noetig hat – allerdings seien fuer ALG-II-Bezieher gebrauchte Moebel zumutbar, meinte das Gericht.

Quelle: Junge Welt vom 3.8.05

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