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Brauchen wir eine neue Arbeitslosenhilfe?

Auch wenn es vielleicht den Anschein hat. Diese Frage ist keine rein rhetorische. Seit Mitte letzten Jahres sind die Absturzsorgen von Mittelschichtlern wieder in den Fokus bundesdeutscher Politik gerückt. BA-Vorstand Alt verlangte „mehr Hartz IV für langjährige Beitragszahler“. [1] Und der Bremer Arbeitsmarktexperte Johannes Steffen hat jüngst eine Rückkehr zur Arbeitslosenhilfe (Alhi) ernsthaft ins Gespräch gebracht.

Steffen verweist dazu auf Lücken im heutigen zweistufigen Sicherungssystem bei Arbeitslosigkeit, die langjährig Versicherte ungeachtet ihres früheren Einkommens und (Höhe und Dauer) ihrer „Einzahlungen“ i.d.R. bereits nach 12 Monaten Erwerbslosigkeit auf die staatliche Fürsorge in Form von Hartz IV verweisen. [2]

Insbesondere der steigenden Zahl an Erwerbslosen, die zuvor über viele Jahre und „außerhalb des Niedriglohnsektors“ - also mir durchschnittlichen oder höheren Löhnen ausgestattet – versicherungspflichtig beschäftigt waren, verweigere das 2-stufige System eine angemessene Sicherungsperspektive außerhalb der (bedarfsabhängigen) Fürsorge. Sie sind nach Ausschöpfen ihres Anspruchs auf Versicherungsleistungen (Arbeitslosen-geld) gehalten, zunächst ihre privaten Rücklagen zu mobilisieren, um ihre laufenden Lebenshaltungskosten zu decken. Um am Ende, nach fast vollständigem Verbrauch der Rücklagen, genau dort zu landen, wo sich Geringverdiener und selbst Nicht-Erwerbsfähige ohnehin wiederfinden: auf dem Sicherungsniveau von Hartz IV, und damit in oder zumindest am Rande von Armut.

In der Tat bietet das mit Abschaffung der Arbeitslosenhilfe 2005 auf 2 Stufen reduzierte Sicherungssystem Besserverdienenden und ihren Familien bei längerem Ausfall des Hauptverdienstes nur zwei „Perspektiven“: die Fürsorgeabhängigkeit (also Hartz IV) oder – insbesondere bei (Ehe-) Partnern mit eigenständigen Einkünften – die teilweise oder gar vollständige Privatisierung des Einkommensrisikos. Mit Fortschreiten der Finanz- und Wirtschaftskrise wächst daher im abhängig beschäftigten Mittelstand die Angst vor einem sozialen Absturz.

Dass dies bis Mitte vergangenen Jahres eher ein Randthema war, hat in erster Linie etwas damit zu tun, dass es sich bei den „Neuzugängen“ in Arbeitslosigkeit in den ersten 4-5 Jahren nach Einführung von Hartz IV (SGB II) meist um geringer Qualifizierte und prekär Beschäftigte handelte. Dies werde sich aber, so Alt und Steffen unisono, in Anbetracht der Krise schnell ändern. „Erstmals seit Abschaffung der Alhi wird der Zugang in Arbeitslosigkeit künftig ganz maßgeblich mit geprägt sein von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die zuvor (langjährig) versicherungspflichtig beschäftigt waren und deren Erwerbseinkommen nahe dem Durchschnittsentgelt und in nicht wenigen Fällen auch deutlich darüber lag.“(Steffen, S.2).

Derzeit federe der Rückgriff auf „konjunkturelle Kurzarbeit“ diese absehbaren Entwicklungen noch weitgehend ab (im Jahresdurchschnitt 2009 1,1 Mio. Beschäftigte). Aber sobald diese auslaufen, werden die Auswirkungen der Krise voll auf den Arbeitsmarkt durchschlagen. Schon jetzt lässt sich das an wachsenden Zugangszahlen im Rechtskreis des SGB III (Arbeitslosenversicherung) ablesen. Ging der Anteil der in diesen Rechtskreis gehörenden Arbeitslosen seit Einführung von Hartz IV kontinuierlich zurück, auf zeitweise nur noch knapp 30 % [3], ist er mittlerweile wieder auf über 37 Prozent geklettert. Damit eng korrespondierend ist - relativ wie absolut - seit Ende 2008 auch wieder ein Anwachsen der Zahl derer zu beobachten, die im Bezug der Versicherungsleistung Alg I stehen. Die Furcht des Mittelstands vor einem Abstieg hat somit durchaus einen realen Kern.

Arbeitslosigkeit (nach Rechtskreisen) und Alg-Bezug 2005 bis 2009 [4]

Jahr
reg. Arbeitslose Deutschland
davon im BezieherInnen von Alg I, Jahresmittel, abs.
davon im Rechtskreis SGB II, in %
davon im Rechtskreis SGB III, in % BezieherInnen von Alg I
 (Jahresdurchschnitt)
abs.
BezieherInnen von Alg I
 (Jahresdurchschnitt in % an den reg.
  Arbeitslosen

2005
4.860.909 43,0 57,0   1.728.045 35,5
 2008 3.267.907 68,1 31,9     916.667 28,1
 2009 3.423.283 62,5 37,5 1.140.982 33,3

 

Nun sind für Hartz IV-Kritiker solche Prognosen nicht neu. Ich selbst wies bereits 2003 darauf hin, dass es infolge der sog. Arbeitsmarktreformen zu einer erheblichen Senkung des Lebensstandards von Langzeitarbeitslosen kommen werde, die vor der Plünderung von Spareinlagen und der Aufgabe des selbstgenutzen Eigenheims nicht halt machen wird. [5] Neu ist allerdings, dass sich die herrschende politische Klasse Sorgen um den Schwund bei den Mittelschichten macht. Erst kürzlich beschloss der Bundestag auf Vorschlag der schwarz-gelben Bundesregierung, das Schonvermögen nach § 12 SGB II zur Altersvorsorge zu verdreifachen – von bislang 250 auf nunmehr 750 € pro vollendetem Lebensjahr.

Steffen erteilt diesem und anderen derzeit gehandelten Korrekturversuchen eine klare Absage. Diese sähen nur eine – wie auch immer geartete – finanzielle Privilegierung innerhalb des Systems von Hartz IV vor, anstatt einen nachhaltigen Beitrag zur Vermeidung von Fürsorgeabhängigkeit infolge von Arbeitslosigkeit zu leisten. Auch eine zeitliche Streckung des Zuschlags nach § 24 SGB II bringe nichts, da dieser das Verbleiben im Hartz IV-System zur konstitutiven Voraussetzung habe. Aus seiner Sicht geht kein Weg an der Wiedereinführung eines zwischengeschalteten dritten Sicherungselements vorbei, „das sich sowohl am zuvor versicherten Entgelt ausrichtet als auch vom Einkommen bzw. Vermögen des Erwerbslosen und seines Partners abhängig ist“ (Steffen, S.2.). Von der Struktur also ein - auf Dauer angelegtes - Element, das der früheren bedürftigkeitsgeprüften) Arbeitslosenhilfe entspricht.

In seiner Veröffentlichung vom Dez. 2009 weist er anhand diverser Haushaltstypen akribisch die Brüche und Fehlsteuerungen nach, die mit der Konstruktion von Hartz IV, einschließlich des befristeten Zuschlags zum Alg II, verbunden sind. Sein Credo: Die otwendigkeit sozialer Absicherung lässt sich nicht auf bloße Armutsvermeidung - gemessen am aktuellen Fürsorgeniveau (Regelsätze) – reduzieren. Das Sozialstaatsprinzip verlange vielmehr auch, im Sinne einer (relativen) Lebensstandard- bzw. Statusabsicherung den Einkommensfluss bei Risikoeintritt oberhalb der Fürsorge zu verstetigen und den Betreffenden die Hartz IV-Abhängigkeit nach Aussteuerung aus der Versicherungsleistung möglichst ganz zu ersparen.

Und er weist - unter Zugrundelegung der Regelungen der früheren Alhi - nach, dass das tatsächlich funktionieren könnte und für einen Großteil der untersuchten Haushalte tatsächlich Entlastung bedeuten würde. Wobei er die Fernwirkungen (Stichwort Altersarmut) noch nicht einmal in den Blick genommen hat. Soweit ebenso sympathisch – wie auch etwas weltfremd. Eine Schätzung der Mehrkosten legt er nicht vor. Es handelt sich, bei Lichte betrachtet, um einen Reformvorschlag, der sich in erster Linie an die Sozialdemokratie dies- und jenseits der SPD wendet. Und der ihr, nebenbei, die Einsicht abverlangt, dass die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe damals ein kapitaler Fehler war. Es bleibt so oder so das eindeutige Verdienst von J. Steffen, die Sicherungsniveaus der bestehende Sicherungssysteme im Falle länger anhaltender Arbeitslosigkeit einmal systematisch unter die Lupe genommen zu haben. Sollte die SPD seinen Vorschlag unbeachtet lassen, wird sie das unweigerlich mit einem weiteren Schwund ihrer traditionellen Wählerbasis bezahlen (müssen).

 

1- aus: Mehr Hartz IV für langjährige Beitragszahler. In: Die Welt v. 13.7.2009

2 - Johannes Steffen, Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit – insgesamt unzureichend. Plädoyer für eine neue Arbeitslosenhilfe. Studie der Arbeitnehmerkammer Bremen, Bremen Dez. 2009

3 - Monatswert für Juni 2008 29,7 %; ab Juli 2008 Monatswerte wieder ansteigend (über der 30 Prozent-Marke)

4 - Daten aus: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf, Stand April 2010, und: Zeitreihe zu Arbeitslosengeldempfänger Deutschland, West, Ost 1991 bis aktuell , Stand 20. April 2010

5 - Auswirkungen der geplanten Veränderungen in den Leistungssystemen für Arbeitslose in Dortmund, Akoplan- Studie, Dortmund Juni 2003; siehe auch: „Die Auswirkungen von Hartz werden bis tief in die bürgerlichen Schichten gehen“. Aus einem Gespräch mit dem Autor dieses Beitrags. In: Martina Stackelbeck (Hg.), Gefälligst zur Kenntnisnahme! Publikation der Kooperationsstelle Wissenschaft-Arbeitswelt Dortmund, Dortmund Okt. 2004

 

Beitrag für die Zeitschrift AMOS, Heft 2/2010

Heiko Holtgrave, 17.5.2010

Mitarbeiter von AKOPLAN – Institut für soziale und ökologische Planung e.V., Dortmund, und Mitglied im Dortmunder Sozialforum

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