Die Parasiten wohnen anderswo
Die Koalitionäre wollen für die gigantischen Mehrkosten von Hartz IV junge Leute verantwortlich machen, die ausziehen und ALG II bekommen. Mit den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ist das allerdings nicht belegbar.
BERLIN taz In den Chor derer, die nun die Arbeitslosen für die Kostenexplosion bei Hartz IV verantwortlich machen, stimmte gestern Hermann Rappe ein. Rappe, Ex-IG-Chemie-Chef, gehört zum "Ombudsrat" für die Hartz-IV-Reform, mit der zu Beginn des Jahres die Arbeitslosen- und die Sozialhilfe zusammengelegt wurden. Wegen der "ungewöhnlichen Zellteilung" bei den Bedarfsgemeinschaften verlangte Rappe stärkere Kontrollen.
"Bedarfsgemeinschaften" sind die Lebensgemeinschaften, in denen Langzeitarbeitslose leben - also Familien oder eheähnliche Partnerschaften. Mit der "Zellteilung" meint Rappe, dass mit Hartz IV sehr viele Arbeitslose einen eigenen Haushalt gegründet hätten, um in den vollständigen Genuss staatlicher Unterstützung zu kommen - und sich nicht von Partner, Partnerin oder Eltern aushalten zu lassen.
Dies entspricht seit zwei Wochen der öffentlichen Gerüchtelage. Die Vermutung: Die gesamte Arbeitsmarktreform Hartz IV, deren Kosten für dieses Jahr mit 14 Milliarden Euro veranschlagt wurden, wird deshalb viel teurer als gedacht, weil sich allzu viele Arbeitslose aus ihren Bedarfsgemeinschaften lösen. Junge Leute zögen von ihren Eltern weg, um mit dem Regelsatz - 345 Euro West, 331 Euro Ost - und der Mietunterstützung vom Staat ein eigenständiges Leben zu beginnen. Paare, die früher Arbeitslosenhilfe bekamen und zusammenlebten, beziehen jetzt lieber getrennte Wohnungen oder geben das vor, um die Unterstützung einzusammeln.
Arbeitsminister Wolfgang Clement hat dies mit den Worten "Missbrauch" und "parasitäres Verhalten" bezeichnet. Verschiedene Zahlen machen die Runde, zu wie viel Prozent das ALG II "abgezockt" werde: 4 Prozent, 10 oder 20. Nur so lasse sich erklären, dass Hartz IV dieses Jahr voraussichtlich statt 14 Milliarden Euro 26 Milliarden kostet und deshalb den Verhandlern der Koalitionsarbeitsgruppe "Arbeit" am nächsten Dienstag noch Kopfschmerzen bereiten wird.
Bis dahin lassen sich die Koalitionäre von Union und SPD hoffentlich noch einmal die Zahlen aus der Bundesagentur für Arbeit (BA) kommen. Denn die BA-Statistik zu den Bedarfsgemeinschaften gibt einen Beweis für "Zellteilung" nicht her. Wäre es wahr, dass Partner und Kinder ausziehen, müsste ja die Zahl der "1-Personen-Gemeinschaften" zugenommen haben. Doch das ist nicht belegbar. Im Januar zählte die BA 1.855.000 "1-Personen-Gemeinschaften" - im März 2.005.000. Für den Juni gibt's nur vorläufige Zahlen, doch demnach haben die 1-Personen-Haushalte jedenfalls nicht zugenommen.
Der messbare Zuwachs der 1-Personen-Haushalte beträgt also 150.000. Veranschlagt man die Kosten jedes Haushalts für den Steuerzahler mit dem Durchschnittswert von 840 Euro, so entspricht dies Mehrkosten von 125 Millionen Euro. Das ist rund ein Hundertstel des diesjährigen Planungsfehlbetrags.
Die geleugnete Partnerschaft sowie die Kinder, die Mamas und Papas Haus verlassen und es sich lieber auf Staatskosten in einer eigenen Wohnung gemütlich machen, mag es geben - viele können es laut Statistik nicht sein. Dennoch ist die erste Maßnahme, die bei SPD wie bei der Union für den Koalitionsvertrag vorgeschlagen wird, die Unterhaltsverpflichtung der Eltern für erwachsene Kinder wieder einzuführen. Karl-Josef Laumann, einer der wenigen verbliebenen Sozialpolitiker der CDU, ruft danach. Der Arbeitsminister in spe Franz Müntefering hat in diese Richtung gestikuliert.
Der grüne Sozialpolitiker Markus Kurth kritisiert den Angriff auf die Selbstständigkeit junger Leute. "Das wäre die totale Durchsetzung der Sippenhaftung in der deutschen Sozialpolitik", sagte Kurth zu taz. "Die große Koalition fiele hinter Bismarck zurück." Man könne nicht Flexibilität und Mobilität einerseits fordern und andererseits den individuellen Hilfeanspruch verweigern. Nicht zuletzt sei die Selbstständigkeit junger Leute durchaus Gegenstand des rot-grünen Hartz-IV-Plans gewesen.
Rätselhaft bleibt nach alldem weiterhin, wie es zu der gigantischen Lücke zwischen Finanzplan und Finanzrealität kommen konnte. Aus der BA heißt es: "Die haben von vornherein falsche Vorstellung über die wahre Zahl der Arbeitslosen und deren Kosten zugrunde gelegt."
ULRIKE WINKELMANN
Quelle: TAZ vom 27.10.05