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Ein-Euro-Reservearmee

Jenseits des geltenden Rechts versuchen die öffentlichen Arbeitgeber, »Billigjobber« zum Streikbruch einzusetzen.

Klassische Bildung hätte die deutschen Gewerkschaften warnen, wenn auch vielleicht nicht aufhalten können. In seiner Wallenstein-Trilogie läßt Schiller den kaisertreuen und doppelzünglerischen Oberst Octavio Piccolomini sagen: »Das eben ist der Fluch der bösen Tat, Daß sie, fortzeugend, immer Böses muß gebären.« Wären sie diesem Ratschlag eines erfolgreichen Bösewichts gefolgt, die Gewerkschaften hätten von der Hartz-Kommission die Finger gelassen. Sie haben nicht. Unter den Empfehlungen der Hartz-Kommission stehen auch die Unterschriften von Peter Gasse (IG Metall) und Isolde Kunkel-Weber (ver.di). Der gute Plan, die »Profis der Nation« zusammenzuführen, begeisterte auch sie. Eine gewisse Disziplinierung von Erwerbslosen traf damals bei manchen Kollegen durchaus auf Verständnis. Nur die Umsetzung, ja daß sei etwas ganz anderes geworden ...

Streikbruch unrechtmäßig

Seit Mitte Februar häufen sich die Nachrichten aus verschiedenen Städten, daß Beschäftigte in den sogenannten Ein-Euro-»Jobs«, den Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung für ALG-II-Empfänger, zum organisierten Streikbruch eingesetzt werden: Karlsruhe, Freiburg, Ulm, Hamburg und andere mehr. In Heidenheim bei Ulm starb ein 57jähriger ALG-II-Empfänger bei einem solchen Einsatz an Herzversagen. Die Arbeitsaufgaben sind vielfältig, sie reichen vom Schneeschippen, Müllsammeln und Leeren der städtischen Papierkörbe bis zum Einsatz in Fahrzeugen der Stadtreinigung in Osnabrück, der mit Polizeischutz durchgesetzt wurde.

Die überregionalen Medien griffen das Thema auf. Die Gewerkschaft organisierte die Ausweitung der Ausstände, rechtliche Schritte wurden eingeleitet. Auf der juristischen Ebene ist die Lage völlig übersichtlich: Der Einsatz von MAEs beim Streikbruch ist unzulässig. Für Beschäftigte in MAE und ABM gilt wie für alle abhängig Beschäftigten ein Urteil des Bundesarbeitsgericht vom 25. Juli 1957, daß es einem »Arbeitnehmer nicht zuzumuten (ist), den Streikenden in den Rücken zu fallen. Es würde sich bei der direkten Streikarbeit um eine unmittelbare Beeinträchtigung der Aussichten des Streiks handeln, die der in den Kreisen der Arbeitnehmer mit Recht herrschenden Anschauung widerspricht«. Ein bestreikter Arbeitsplatz ist zudem weder »zusätzlich« im Sinne des SGB III, noch stellt eine solche Tätigkeit eine Eingliederungshilfe in den ersten Arbeitsmarkt dar. Schließlich widerspricht eine kurzfristige Umsetzung auf einen bestreikten Arbeitsplatz sicherlich dem Bestimmtheitsgebot, wonach Umfang, Dauer und Art der Tätigkeit vor Beginn der Maßnahme festzulegen sind. Jeder Ein-Euro-»Jobber« hat das selbstverständliche Recht, einen Einsatz als Streikbrecher abzulehnen oder jederzeit abzubrechen. Sanktionen sind nicht rechtmäßig. Die Bundesagentur für Arbeit ist als staatliche Behörde zur Neutralität in Tarifkonflikten verpflichtet.

Schwächstes Kettenglied

Trotzdem gelang es nicht, den Einsatz von Ein-Euro-Jobbern gegen die Streikenden effektiv zu verhindern. Die Hartz-Reformen greifen. Die ALG-II-Empfänger leben ohne Reserven am Existenzminimum. Der bloße Hinweis auf eine gesicherte Rechtsstellung beruhigt wenig, ist doch im SGB II eine aufschiebende Wirkung von Widersprüchen ausgeschlossen. Ohne eine erfolgreiche Eilentscheidung vor dem Sozialgericht wird auch eine unrechtmäßige Leistungskürzung erst einmal wirksam. Zudem kann den Betroffenen ohne eine Leistungskürzung Geld entzogen werden, indem man sie einfach nicht beauftragt: Die Mehraufwandsentschädigung von etwa 190 Euro im Monat wird nur für die Stunden gezahlt, in denen die Betroffenen tatsächlich beschäftigt wurden. Nur wer seine Rechte sehr gut kennt und weiß, wie man sie durchsetzen kann, wird sich in solchen Konflikten solidarisch behaupten können.

Sicher hat sich in den letzten zweieinhalb Jahren die soziale und politische Situation geändert. Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe wurde die traditionelle Perspektive eines lebenslangen Erwerbslebens mit einigen Unterbrechungen durch zeitweilige Arbeitslosigkeit fragwürdig. Die breiten Proteste gegen die Agenda 2010 und »Hartz IV« haben die Stimmung beeinflußt. Während beim Streik für die 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metallindustrie im Sommer 2003 Erwerbslose vor die Fernsehkameras traten, um ihren Arbeitswillen zu bekunden, ist eine Neuauflage dieser Kampagne ausgeschlossen. Die streikenden Kollegen brauchen Unterstützung – die Erwerbslosen aber auch. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Von Sebastian Gerhardt

Quelle: Junge Welt vom 25.06.06

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