Umsetzung von Hartz IV ist voller Mängel
Verbände vermissen in Behörden jedes Fingerspitzengefühl - Veröffentlichung des Evangelischen Pressedienstes
Fünf Monate nach ihrem Start sind die Anfangsschwierigkeiten der Hartz-IVReform noch längst nicht überwunden. Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen kritisieren rechtliche Mängel, Fehlentscheidungen und erhebliche Probleme für Menschen mit besonderem Beratungsbedarf.
»Die Behörde funktioniert nicht. Sie ist einfach nicht erreichbar«, kritisiert Harald Thome, Vorsitzender der Selbsthilfeorganisation Tacheles (Wuppertal). Noch immer wüssten viele Arbeitslose nicht die Telefonnummer oder den Namen ihres Sachbearbeiters. Das sei auch in vielen anderen Kommunen so. »Wenn der Strom abgeschaltet wird oder Leute schlicht nichts zu essen haben, dann muss die Arbeitsgemeinschaft erreichbar sein«, fordert Thome.
Das Arbeitslosen Hilfe Forum Deutschland (Bonn) übt ebenfalls scharfe Kritik an den Agenturen. Nicht einmal das Verwalten funktioniere dort. Formulare für Folgeanträge auf Arbeitslosengeld II würden nicht rechtzeitig versandt und bewilligte Leistungen mit unhaltbarer oder ganz ohne Begründung wieder gestrichen, berichtet Vorsitzender Martin Behrsing.
Der Deutsche Caritasverband moniert, dass sich die Agenturen nur um leicht vermittelbare Arbeitslose kümmern. Suchtkranke und Obdachlose seien dort noch gar nicht im Fokus. Seiten 12-13
»In Behörden fehlt jedes Fingerspitzengefühl«
Erschreckendes Urteil von Wohlfahrt und Selbsthilfegruppen zur Umsetzung von Hartz IV
Fünf Monate nach ihrem Start sind die Anfangsschwierigkeiten der Hartz-IVReform noch längst nicht überwunden. Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen kritisieren rechtliche Mängel, Fehlentscheidungen und erhebliche Probleme für Menschen mit besonderem Beratungsbedarf.
»Die Behörde funktioniert nicht. Sie ist einfach nicht erreichbar«, kritisiert Harald Thome, Vorsitzender der Selbsthilfeorganisation Tacheles (Wuppertal). Noch immer wüssten viele Arbeitslose nicht die Telefonnummer oder den Namen ihres Sachbearbeiters. Das sei auch in vielen anderen Kommunen so. »Wenn der Strom abgeschaltet wird oder Leute schlicht nichts zu essen haben, dann muss die Arbeitsgemeinschaft erreichbar sein«, fordert Thome. »Aber das ist oft nicht der Fall.«
»Die Arbeitsförderung funktioniert so gut wie gar nicht«
Nein, Positives zu Hartz IV will dem Selbsthilfe-Pionier nicht einfallen. »Die Arbeitsförderung funktioniert so gut wie gar nicht«, fährt er fort. Nur einige junge Erwachsene unter 25 Jahren würden in Sprachkurse oder andere Bildungsangebote vermittelt; für Ältere gebe es schlicht nichts. »Früher haben die Leute vom Arbeitsamt wenig gehört«, meint auch Martin Behrsing, Vorsitzender des Arbeitslosen Hilfe Forum Deutschland in Bonn, heute sei es »noch weniger«.
Thome zitiert den Arbeitsmarktbericht der Landesagentur Nordrhein-Westfalen. Danach habe die Arbeitsförderung im April nur noch bei 40 Prozent des Vorjahresniveaus gelegen - mit stark rückläufiger Tendenz. Offenbar seien das nur noch die Auslaufprojekte aus dem vergangenen Jahr, meint Thome. Nicht »Fordern und Fördern« sei das Motto, sondern »Fordern und Verwalten«.
Aber selbst das Verwalten läuft nach den Erfahrungen bei Tacheles nicht rund. So seien zahlreiche noch im Jahr 2004 eingereichte Widersprüche immer noch nicht entschieden. Formulare für Folgeanträge auf Arbeitslosengeld II würden nicht rechtzeitig oder gar nicht versandt. Bewilligte Leistungen würden mit unhaltbarer oder gar ganz ohne Begründung wieder gestrichen.
Zu den wichtigsten inhaltlichen Streitpunkten gehören nach Kenntnis der Selbsthilfeorganisationen die Kosten der Unterkunft. Reihenweise würden Arbeitslose zum Umzug aufgefordert, häufig wegen nur wenigen Quadratmetern oder Euros, berichtet Thome. Die gesetzte Frist betrage fast durchgehend nur drei Monate, genau die gesetzliche Kündigungsfrist für die alte Wohnung. Obwohl das Gesetz gerade hier einen weiten Spielraum für Ermessens- und Einzelfallentscheidungen lasse, fehle den Arbeitsgemeinschaften jedes Fingerspitzengefühl, kritisiert Thome. Zudem klärten die Behörden nicht darüber auf, dass sie für die Umzugskosten aufkommen müssen.
Probleme gibt es auch mit den Eingliederungsvereinbarungen - wobei das Wort Vereinbarung nach den Erfahrungen Behrsing s eher schmeichelhaft scheint. »Die Arbeitslosen werden zu Eingliederungsvereinbarungen genötigt, auf deren Inhalt sie keinen Einfluss haben«, kritisiert er. Dabei werde häufig auf Beratungen Bezug genommen, die es nie gegeben habe. In Heidelberg würden die Vereinbarungen nicht einmal individuell besprochen, sondern gleich im großen Stil in so genannten Informations-Veranstaltungen vorgelegt und unterzeichnet.
Auch die umstrittenen Ein-Euro-Jobs machen Probleme. »Ich halte den überwiegenden Teil der Arbeitsgelegenheiten für rechtswidrig«, meint Thome: Denn zum einen sehe das Gesetz die Arbeitsgelegenheiten nur dann vor, wenn dies zur beruflichen Eingliederung des Arbeitslosen beitrage. »Erhebliche Zweifel« hat Thome in vielen Fällen auch an der vom Gesetz geforderten Zusätzlichkeit der Arbeit; beispielsweise seien schon Hausmeistertätigkeiten an einer Schule als Arbeitsgelegenheit vermittelt worden. »Da gibt es die abenteuerlichsten Sachen«, sagt auch Behrsing.
Häufiger Anlass für Streit sind die mit Hartz IV eingeführten so genannten Bedarfsgemeinschaften, also Haushalte, in denen Langzeitarbeitslose mit Ehe- oder Lebenspartner zusammenleben. Hat ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ein Einkommen, wird dies auf das Arbeitslosengeld II angerechnet. Wenn das Einkommen des Partners so hoch ist, dass der Arbeitslose gar kein Geld mehr bekommt, falle er auch aus den Integrationsleistungen heraus, kritisiert die Sprecherin des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV), Ulrike Bauer. Nicht einmal ein Ein-Euro-Job sei dann noch möglich. Bauer: »Das trifft meistens Frauen.«
Aus Rasierapparaten oder feuchten Zahnbürsten lässt sich keine Lebensgemeinschaft ableiten
Eine besondere Form der Bedarfsgemeinschaften und Schwerpunkt der gerichtlichen Entscheidungen zu Hartz IV sind die eheähnlichen Gemeinschaften. Auch in der Beratung »kommt das immer wieder«, weiß Thome. Dabei ist er zufrieden mit der Rechtsprechung, wonach sich aus Rasierapparaten oder feuchten Zahnbürsten im Bad keine Lebensgemeinschaft ableiten lässt. Überwiegend gehe es bei diesem Thema darum, »die Arbeitsgemeinschaften zu rechtmäßigem Verhalten zu zwingen«. Umstritten sind auch die Methoden, mit denen die Arbeitsgemeinschaften hier ermitteln. Unangekündigte Hausbesuche stünden auf der Tagesordnung, und »es werden Fragebögen ausgepackt, bei denen jeder Datenschützer den Kopf schütteln würde«, so Behrsing. Besonders beliebt, aber nach Einschätzung des Arbeitslosen Hilfe Forums kaum zulässig sei die Forderung, die kompletten Kontoauszüge der vergangenen sechs Monate vorzulegen.
Renate Walter-Hamann, beim Deutschen Caritasverband (DCV) Referatsleiterin Basisdienste und besondere Lebenslagen, richtet ihr Augenmerk insbesondere auf Menschen mit besonderem Beratungsbedarf, etwa Suchtkranke und Obdachlose. Und die, so ihre Erfahrung, »sind noch nicht so sehr im Fokus«. »Die Agenturen konzentrieren sich auf diejenigen, die leicht zu vermitteln sind«, kritisiert auch Tina Hofmann, Referentin für Jugendsozialarbeit beim DPWV. Beide Expertinnen berichten von Problemen der Grundsicherung für Arbeitssuchende an den Schnittstellen zur Sozial- und zur Jugendhilfe. So baue die Sozialhilfe Angebote der Jugendhilfe sowie Integrationshilfen für Suchtkranke und Obdachlose ab, ohne dies mit den Arbeitsagenturen oder Arbeitsgemeinschaften abzustimmen. Sozialpädagogische Integrationshilfen sind im Zweiten Sozialgesetzbuch nur noch als Kann-Leistungen vorgesehen. Nach Kenntnis Hofmanns werden sie meistens verweigert.
Unbefriedigend sei auch die Regelung, nach der ein sechsmonatiger Aufenthalt in einer stationären Einrichtung Leistungen der Grundsicherung ausschließt. »Da müsste man stärker differenzieren«, fordert Walter- Hamann. Denn viele stationäre Angebote dienten lediglich der Stabilisierung im Alltag, schlössen aber eine Erwerbstätigkeit nicht aus. Bei Suchtkranken werde die häufig an eine Therapie angeschlossene Rehabilitation in Frage gestellt, »die ja gerade das Ziel hat, die Erwerbsfähigkeit herzustellen«.
Wohnungslosen werde die Hilfe häufig mit dem Vorwand verweigert, sie seien nur auf der Durchreise. Dabei sei eigentlich klar, dass sie Anspruch auf Grundsicherung haben, wenn sie an einem Ort blei ben wollen. »Aber das wird in manchen Kommunen immer wieder in Frage gestellt«, kritisiert Walter- Hamann. »Diejenigen, denen man sich intensiver widmen müsste, werden aussortiert«, fasst Hofmann zusammen. Martin Wortmann
Quelle: Evangelischer Pressedienst, www.epd.de 3. Juni 2005 Nr. 22