Hartz IV und Zwangsumzüge: Aufstehen — subito!
Ausnahmsweise gibt es keinen Zweifel: Die Sozialpolitik der Großen Koalition folgt in ihrer Brutalität dem rot-grünen Agenda-Muster. Müntefering ist in der Verpackung bemüht, das sozialdemokratische Schleifchen nicht mit dem Schuss bürokratischen Zynismus à la Clement zu versehen, aber das Politikmuster der Enteignung, Entwürdigung und Disziplinierung ist tupfengleich.
Von 4,23 Euro für Nahrung
und Getränke täglich kann niemand wirklich leben, und 18,11
Euro für den ÖPNV im Monat ist der Entzug des Rechts auf
Mobilität. 1,2 Millionen Menschen in 700.000 ALG-II-Haushalten
wohnen nach den Kriterien von Hartz IV «unangemessen» und
werden in diesen Wochen mit Überprüfungsverfahren
überzogen, von denen — bei allen Schwierigkeiten der Schätzung
— am Ende 300.000—500.000 «stille» oder «offene»
Zwangsumzüge stehen werden. Die explodierenden Energiekosten
lassen zudem mehr und mehr Menschen in die «teuren»
Mietfallen rutschen.
Sicherlich, die Kriterien, die
speziellen kommunalen Regelungen und Ausnahmetatbestände sind
bei allen Dehnfugen der Auslegung so vielfältig, dass ein
Ergebnis eher aufgrund der gesellschaftspolitischen
Auseinandersetzungen entstehen wird als in der Kaffeesatzleserei
erlesener Vorschriften. Aber eines steht schon jetzt fest: Hartz IV
gebiert mit den Zwangsumzügen den nächsten
sozialpolitisch-bürokratischen Super- Wahnwitz. Dass es allein
um menschenunwürdige Disziplinierung geht, macht eine Überlegung
deutlich: Wenn wir einmal unterstellen, dass 300.000 ALG-II-Haushalte
im Durchschnitt 50 Euro monatlich «zu teuer» wohnen, dann
müsste die Gesellschaft schlappe 180 Millionen Euro bezahlen, um
diesen Agenda-2010-Irrsinn angemessen zu bewältigen. Noch nicht
einmal das Totschlagargument leerer öffentlicher Kassen kann
seriös bemüht werden.
Wenn wir die Zeichen
richtig deuten, dann ist der Mut zur Wut bei den Betroffenen zu den
Zwangsumzügen schon vorhanden. Die Hartz-IV- Beratungsstellen
berichten, dass jetzt 20—40% der Beratungen auf dem Feld der
Zwangsumzüge liegt. Sie berichten auch über die
individuellen Anpassungen und «stillen» Lösungen —
doch irgendwie die 50 Euro zusammen zu kratzen, die Freunde und
Verwandten anzupumpen oder das Geld aus den ALG-II-Sätzen
herauszupressen. Aber die Wut staut sich, sie bricht noch nicht
heraus und findet keine Bahnen. Die Arbeitsagenturen organisieren
einen tröpfelnden, individualisierten Prozess, oft kaschiert und
dosiert, der auf die Kanalisierung potentiellen Unmuts ausgerichtet
ist. Diese lautlose Massendisziplinierung ist bisher noch geglückt.
Die Lautlosigkeit hat aber auch deshalb funktioniert, weil die
entstandenen Konflikte lokalisiert blieben. Eine
bundesrepublikanische Thematisierung des Skandals an sich ist bisher
ausgeblieben.
Deshalb ist jetzt eine vierfache
strategische Orientierung aller derjenigen Gruppen und Initiativen
notwendig, die sich der systematischen Verhinderung der Zwangsumzüge
annehmen wollen:
1. Der Aufbau von lokalen Notruf- und
Beratungszentralen, die kompetente individuelle Hilfe (inklusive
Rechtsbeiständen) anbieten und diese mit politischen
Einmischungsangeboten kombinieren. So planen wir z.B. in Berlin eine
Free Call Nummer: (0800) 12345678, die mit 4—8 Telefonen so
geschaltet ist, dass ein Rund-Um-Service von 8—20 Uhr möglich
wird, ohne die Berater zu überlasten.
2. Wenn
solche erweiterten Angebote wirklich angenommen werden, sollten die
Fälle des bürokratischen Schwachsinns das Material für
lokale und regionale Interventionen hergeben, um die Sache selbst ad
absurdum zu führen. Hier müssten die Aktionsbündnisse
für Sozialproteste, BAGSHI, Runde Tische von Erwerbslosen,
gewerkschaftliche Initiativen, Montagsdemonstrationszusammenhänge,
aber auch etwas etabliertere Beratungseinrichtungen der Kirchen und
Wohlfahrtsverbände zusammen arbeiten. Massive Interventionen bei
JobCentern, deren Beiräten und Kommunalverantwortlichen sind
angesagt.
3. Eine bundesrepublikanische Thematisierung
und Skandalisierung ist längst überfällig. Ein erster
Versuch einer solchen thematischen Zuspitzung ist für den
20.März zusammen mit Lokalbündnissen aus Berlin, Leipzig,
Duisburg/Oberhausen und Hamburg in Berlin geplant. Der Angriff muss
auf die soziale Augenmaßlosigkeit gelenkt werden. Heuschrecken
tragen auch zuweilen sozialpolitische Gewänder, Herr
Müntefering! Anstatt ein riesiges bürokratisches
Überprüfungsverfahren und eine Verängstigungsmaschinerie
zu installieren, liegt doch eine soziale Kulanzlösung auf der
flachen Hand. Noch nicht einmal die vier Grundrechenarten scheint die
Koalition zu beherrschen, sonst hätte sie den personellen
Aufwand der Überprüfung, die Kosten des Auszugs
(Renovierung), die Einspruchs- und Gerichtskosten mitkalkuliert. Von
den erwähnten 180 Millionen Euro an Mehrkosten für Mieten
blieben vermutlich als gesellschaftliche Gesamtkosten nicht mehr als
130 Millionen Euro übrig.
4. Diese Argumentation
wird nur zu Auseinandersetzungen führen, wenn wir aus unseren
politischen Zusammenhängen glaubwürdig androhen,
tatsächlich Zwangsumzüge zu verhindern. Skandalisierung im
Vorfeld von Zwangsumzügen, die sich in diesem Fall auch nicht
vor der biographischen Boulevardisierung des Konflikts scheut, würde
die Akteure auf der kommunalen Ebene erheblich verunsichern,
möglicherweise «Stopps» von Zwangsumzügen
beschließen lassen. Aber es wird auch Akteure geben, die
schlicht einfach «durchziehen» wollen — und hier bleibt
nichts anderes übrig, als mit Menschenmauern vor Ort
Zwangsumzüge zu verhindern. Das werden Aktionsgruppen nicht
allein schaffen, sondern hier hilft der Rückgriff auf
weimarische, argentinische, italienische und amerikanische
Erfahrungen: Den Widerstand von unten, aus den Häusern und
Straßenzügen, organisieren, vor allem in Stadtteilen, in
denen noch Bestände von Solidarität vorhanden sind. Drei
exemplarische Verhinderungen von Zwangsumzügen genügen, um
die öffentliche Debatte entscheidend zu beeinflussen.
Wer
am 3.Juni in Berlin einen beeindruckenden sozialpolitischen Protest
gegen die Große Koalition organisieren will, muss sich dringend
gegen Zwangsumzüge engagieren. Dieses Engagement ist die
Voraussetzung dafür, die Dynamik des sozialpolitischen Protests
erneut zu entfachen — subito!
von PETER GROTTIAN
Peter Grottian ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der FU Berlin und «Bewegungsunternehmer» im Berliner Sozialforum und dem Aktionsbündnis Sozialproteste.
Quelle: SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2006, http://www.soz-plus.de/