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Kampf um die Würde trotz Hartz IV - Hunger versus Leben

Kerstin K. und Michael L. sind chronisch krank, chronisch arbeitslos und chronisch unterfinanziert. Ihren Mehrbedarf an Medikamenten bestreiten sie von Hartz-IV.

Kerstin K. hat "Kaiser, wie viel Schrittchen darf ich gehn?" nie gespielt. Es gibt Gänseschrittchen oder Riesenschritte oder Sprünge - und der, der der Kaiser ist, befiehlt. Manchmal befiehlt er Schritte zurück. Ein blödes Spiel. Zählen sollen die Kinder dadurch lernen, aber was sie eher kapieren: Manche kommen vorwärts und manche nicht. Denn selten lässt der Kaiser den siegen, den er nicht mag. Michael L. kennt das Spiel. Gern mitgemacht hat er nicht. Seine Kindheit hat er sowieso in schlechter Erinnerung.

Jetzt allerdings haben K., die in Mannheim lebt, und L. aus Hamburg etwas gemeinsam: Sie kämpfen um ihre Würde. Die zwei Hartz-VI-Betroffenen sind chronisch krank, aber die Medikamente, die sie brauchen, der Mehrbedarf, der ihnen zusteht, werden ihnen von den Arbeitslosengeld-II-Behörden, die mancherorts Jobcenter, andernorts Arge heißen - nicht erstattet. "Mich hat die Hartz-IV-Willkür politisiert", sagt K.. Und L.: "Ich bin jemand, der Widerstand leistet. - Jobcenter, wie viel Schritte darf ich gehen?"

Bis vor kurzem hatte Michael L. einen Käfig mit zwei Kanarienvögeln in seiner Wohnung. Jetzt stehen nur noch Topfpflanzen am Fenster. Auch sein Aquarium ist leer bis auf ein paar trockene Steine. Fische, Vögel - er hat sie Bekannten gebracht. "Es soll mich nichts halten." Seinen Hund hat er schon vor zwei Jahren hergegeben. Der glücklichste Tag in seinem Leben? "Als ich ihn beim Züchter abholte." Aber der Hund wurde krank. Der arbeitslose Psychologe konnte die Tierarztrechnungen nicht bezahlen. "Hartz IV bricht mir das Genick", sagt er. Auf einem Stuhl in seinem engen Zimmer liegt das Buch "Suizid und Suizidhilfe".

So L. er Fische, Vögel, den Hund hatte, gab es Kreaturen in L.s Wohnung, die in Käfigen saßen und über die er Herr war. Jetzt spürt er, dass er selbst eingesperrt ist. 26 Quadratmeter groß ist seine Wohnung - vollgestellt und aufgeräumt und kaum zwei Meter hoch. Zehn Schritte zur Küchenzeile, die hinter einem Vorhang liegt, zehn Schritte zurück zum Fenster, vor dem Gummibaum und Yukka stehen. Zehn Schritte zur Küchenzeile und zehn Schritte zurück. Dazu die Schmerzen in den Augen, im Rücken. Die Vorstellung, dass das noch 20 Jahre so gehen kann, martert den 57-Jährigen. Er weiß, dass er keine Chance mehr hat. Nicht auf Arbeit, nicht auf eine andere Wohnung, nicht auf Gesundheit, und keinen Perspektivwechsel dazu. Zehn Schritte in die eine Richtung, zehn Schritte in die andere.

L. hat ein Augenproblem. Die Tränenflüssigkeitsproduktion funktioniert nicht. Wie Sandpapier rutschen seine Lider über die Hornhaut. Die Gefahr zu erblinden ist groß. Die Augentropfen sind teuer und seit der Gesundheitsreform keine Kassenleistung mehr. Auf dem Jobcenter fühlt man sich ebenfalls nicht zuständig.

L. braucht bis zu 100 Euro im Monat für die Augentropfen und ergänzende Medizin. Er soll sie vom Regelsatz, der 351 Euro beträgt, zahlen. Der Regelsatz deckt allerdings auch noch Strom, Wasser, Telefon, Kleidung und Lebensmittel ab. Am Ende hat er die Wahl: Essen oder Medikamente.

Aber L. ist streitbar. Das macht ihn nicht beliebter. Querulant, Nörgler sagen die Leute. Der rasend schnell sprechende Mann hat auf Zahlung der Medikamente geklagt. In erster Instanz wurde die Klage abgewiesen. L. klagt weiter. Am 25. Februar, dem Tag, als das Hamburger Landessozialgericht in einem Eilverfahren entschied, dass ihm die Medikamente vorerst doch bezahlt werden müssen, bekam er auch das "provisorische grüne Licht" der Sterbehilfsorganisation Dignitas in der Schweiz. Denn L. hat dort einen Antrag auf Sterbehilfe gestellt. Es ist sein Notausgang. "Mir ist bewusst, dass das meine letzte Entscheidung in meinem Leben wäre."

Kerstin K. will L. auf seinem Weg in die Schweiz begleiten, wenn er ihn geht. Die beiden haben sich auf einer Pressekonferenz in Berlin zu Hartz IV kennengelernt. K. sitzt in einem Café im Mannheimer Bahnhof und friert. Wie jeden Morgen hat sie Gliederschmerzen und Durchfall. "Wenn es doch Nasenbluten wäre. Aber Durchfall, das ist mir so peinlich." Multiple Sklerose hat sie. Seit sie 18 ist. Und Zöliakie - besser bekannt unter Glutenunverträglichkeit. Beides schlägt auf den Darm. "Der Darm ist das Traumagedächtnis des Menschen", sagt sie.

K. ist angespannt. Bedächtig streicht sie sich ihre braunen Locken, die sie noch zerbrechlicher scheinen lassen, aus dem Gesicht. Über sich zu sprechen, fällt ihr nicht leicht. K. steht aufgrund ihrer Krankheiten zweifacher Mehrbedarf zu den Hartz-IV-Regelsätzen zu. 66,47 Euro für die Zöliakie, 25,56 Euro für die multiple Sklerose. Allein sie bekommt nur einen Mehrbedarf. Den für Zöliakie. Immerhin ist es der höhere. "So kommt das Gesetz noch vermeintlich großzügig daher. Das ist doch zynisch", sagt sie.

Wegen der multiplen Sklerose soll sie sich vollwertig ernähren. Das ist schon teuer genug. Die Zöliakie macht es noch teurer, weil Gluten in vielem drin ist und sie nur Ausgewähltes essen kann. "Ein kleines Kastanienbrot kostet 5 Euro", sagt sie. Sie hat das Geld dafür nicht. Meist isst sie nur polierten Reis.

Später in ihrer hellhörigen Wohnung, in der Bett und Fernseher in der Küche stehen, weil alles so eng ist, zeigt sie die Reispackung. Es ist Ende Februar. "Jetzt am Ende des Monats hab ich kein Geld mehr." Sie öffnet ihren Kühlschrank. Ein Toastbrot vom Discounter für 79 Cent ist drin. Gift für sie. "Was bleibt mir anderes übrig? Soll ich eine Bank überfallen?"

Ihre Wohnung wirkt, als wäre sie dort nie angekommen. Papiere und Klamottenstapel neben dem Bett, Bücher vor dem Fernseher, Koffer vor dem Schrank. Ihre 13 Reiki-Zertifikate hat sie mit Tesafilm an die Wand geklebt. Reiki ist therapeutische Energiearbeit japanischen Ursprungs, bei der Hände aufgelegt werden. "Das Leiden ist typisch menschlich und nichts Besonderes", sagt K.. "Einen Weg rauszufinden ist Gnade. Ich hab ja ein heftiges Leben, wie andere auch."

L. und K. sind keine Einzelfälle. Das Berliner Aktionsbündnis Sozialproteste argumentiert, dass sich von den 3 Millionen Hartz-IV-Beziehern und -Bezieherinnen etwa ein Fünftel rezeptfreie Medikamente nicht mehr leisten kann. Die Zahl stammt aus der Ausgabe des Informationsdienstes Soziale Sicherung vom Juli 2008. Auch Martin Behrsing vom Erwerbslosenforum Deutschland berichtet von vielen Betroffenen. Vor allem bei chronisch Kranken, bei Leuten mit Rückenleiden, mit Allergien, mit Atemwegserkrankungen, selbst bei Leuten mit Krebs komme es zu großen finanziellen Härten. "Starke Medikamente mit vielen Nebenwirkungen kriegt man finanziert, aber was es im Vorfeld an sanften Behandlungsmöglichkeiten gibt, nicht." Die Gesundheitsreform habe das Problem verstärkt, weil so viele Medikamente nicht mehr von den Kassen bezahlt werden.

Auf der politischen Ebene ist das Thema bisher jedoch nicht angekommen. Im Ministerium des Bundessozialminister Olaf Scholz wiegelt man ab. "So was ist uns als Problem nicht bekannt", sagt Lena Daldrup vom Pressereferat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. "Wir lassen niemanden im Regen stehen. Wir versuchen immer mithilfe aller Beteiligten passgenaue Lösungen zu finden." Ansonsten verweist sie auf die bestehenden Gesetze. "OTC-Medikamente sind pauschaliert im Regelsatz enthalten." OTC - das steht für "over the counter", also für frei verkäuflich. Die Pauschale im Regelsatz wird von den Gerichten bei ungefähr 4 Prozent angesetzt. Etwa 14 Euro an Ausgaben im Monat hält der Gesetzgeber also für zumutbar. L. zahlt in manchen Monaten das Sechsfache.

"Die Gesundheitsversorgung von Hartz-IV-Beziehern ist nicht mehr gewährleistet", kritisiert auch Frank Jäger, Referent für Sozialrecht beim Wuppertaler Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles. "Viele gehen nicht mehr zum Arzt. Viele kaufen sich die Medikamente nicht mehr." Betroffene haben die Möglichkeit, gegen die Nichtfinanzierung zu klagen. "Aber der normale Klageweg dauert Jahre", sagt er. Nur harte Naturen schaffen es, in diesem ganzen Wust von Beschwerde, Widerspruch, Klage, Widerspruchsklage nicht zu resignieren. Der in der Behördensprache versierte Michael L. scheint so eine harte Natur. "Viele denken, ich sei hart, aber das stimmt nicht", sagt er. "Mit Hartz IV ist etwas in mir zerbrochen."

L. ist ein Verneiner. Er hat sich vom Sohn einer Alleinerziehenden über Gärtner zum Psychologen hochgekämpft, aber gelandet ist er nirgends. Seit seinem Studienabschluss 1992 ist er arbeitslos. Obwohl er sich nach Menschen sehnt, ist er immer ein Einzelgänger gewesen. Seit Hartz IV aber sind seine Lebensbezüge zum Kampf um Leistungsbezüge geronnen. Interessen hat er keine mehr. Seine Gitarre verstaubt in der Ecke.

Anders die zwanzig Jahre jüngere K.. Sie ist zu einer Fragenden geworden. "Warum teilt mir das Jobcenter nicht mit, dass ich ab Januar eigentlich im Monat 3,73 Euro mehr wegen meiner Zöliakie bekommen müsste?" Die Frage geht ins Leere. "Den Brief, dass mir der Mehrbedarf für die multiple Sklerose aberkannt wird, den kriege ich doch auch." Dass die Mehrbedarfssätze gestiegen sind, sagt ihr Rechtsanwalt.

Trotzdem kann K. Hartz IV, so hoffnungslos das klingt, etwas abgewinnen: "Endlich darf ich diese Krankheit haben." Ihre Eltern hätten die Diagnose nie akzeptiert. "Meine Tochter ist kein Krüppel", sagte der Vater. Wie ihre Mutter schleppte er Kriegstraumata und Euthanasieängste mit sich herum. Die dämpften die Eltern mit Medikamenten. Selbst während der Schwangerschaft nahm die Mutter starke Schlafmittel. Ihr Vater wiederum tat der Kleinen Valium ins Fläschchen, um sie nachts ruhig zu halten. K. glaubt, dass sie als Kind ständig zwischen Drogen und Entzug lebte.

Mit 19 wurde die Pharmazeutisch-technische Assistentin schwanger und heiratete. Fünf Monate nach der Geburt des Sohnes zog ihr Mann aus. Kind, bleierne Müdigkeit wegen der Krankheit und verschiedene Jobs, als Politesse, als Verkäuferin, als Kellnerin - um sich selbst wach zu halten, begann sie Aufputschmittel zu nehmen. Sie war Mitte 20, als der Zusammenbruch kam.

Heute redet sie verzeihend über sich. "Ich weiß, dass es damals zu viel für mich war." Sie würde gerne arbeiten. Sie würde auch einen 1-Euro-Job machen, wenn er keine regulären Arbeitsplätze vernichtet und man auf ihre Krankheit Rücksicht nimmt. 100 Prozent schwerbehindert ist sie. Um sich gesellschaftlich einzubringen, hilft sie ehemaligen Häftlingen bei der Resozialisierung. "Mit Ämtern kenne ich mich aus."

K. und L. kämpfen um ihre Würde. In Euros umgerechnet ist Würde nicht teuer. Das Wertvolle daran ist etwas ganz anderes, meint K.. "Die Frage danach nämlich, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen."

Quelle: taz vom 11.03.09

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