Mythos und Realität bei Hartz IV
Mythos I: - Kostenexplosion bei Hartz IV: Die Ausgaben für Arbeitslosigkeit sind insgesamt nicht gestiegen, sondern gesunken.
- Im April 2006 wurden von der
Bundesagentur für Arbeit (BA) und vom Bund für SGB III und
SGB II zusammen insgesamt 4,582 Mrd. Euro ausgegeben und damit etwa
199 Mio. Euro weniger als im April 2005 (4,781 Mrd. Euro).
- Der Saldo aus Kostensteigerung beim SGB II (5,8 Mrd. Euro) und Einsparungen im SGB III (-6,8 Mrd. Euro) ergab für 2005 ein Plus von 1 Mrd. Euro; für 2006 ist ein Jahressaldo von 2,8 Mrd. Euro zu erwarten (WSI 2006).
Die Kosten der Arbeitslosigkeit sind also insgesamt nicht gestiegen, sondern gesunken.
Kosten für ALG I gehen deutlich
zurück
Dies liegt daran, dass die Kosten des
beitragsfinanzierten Arbeitslosengeldes deutlich zurückgehen. Im Durchschnitt von November 2005 bis
April 2006 wurden monatlich 2,208 Mrd. Euro für Arbeitslosengeld
I ausgegeben. Dies waren 270 Mio. Euro pro Monat oder 10,9 Prozent
weniger als im entsprechenden Zeitraum des Vorjahres (Schröder
2006). Aufgrund der deutlich sinkenden Ausgaben beim
beitragsfinanzierten Arbeitslosengeld I, den Ausgaben für aktive
Arbeitsmarktpolitik sowie des Aussteuerungsbetrags wird die
Bundesagentur für Arbeit in diesem Jahr voraussichtlich einen
Überschuss von 4 bis 7,5 Mrd. Euro machen. Dem Anstieg der
Kosten für das Arbeitslosengeld II steht also eine
Kostenimplosion beim beitragsfinanzierten Arbeitslosengeld I
gegenüber.
Auch bei Hartz IV keine
Kostenexplosion
Auch die von allen möglichen
Seiten beschworene Kostenexplosion bei Hartz IV ist ein Mythos. Zum
einen waren die Annahmen der alten Bundesregierung über die
Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit und die Einsparpotenziale
durch Hartz IV von vornherein irreal. Obwohl sie 2004 rund 18 Mrd.
Euro für die Arbeitslosenhilfe ausgegeben hatte, plante sie für
das Arbeitslosengeld II nur 14 Mrd. Euro ein. Insgesamt sollte die
zusammengelegte Arbeitslosen- und Sozialhilfe 26 Mrd. Euro kosten,
obwohl 2004 für Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammen 27,6
Mrd. Euro ausgegeben worden waren. Durch diese unrealistischen Annahmen musste es zwangsläufig zu höheren realen Kosten
kommen. Zum anderen waren bereits unter der alten Arbeitslosenhilfe
die Bezieherzahlen ständig (von 1,707 Mio. im August 2002 auf
2,261 Mio. im Dezember 2004) gestiegen und die Kosten um zwei Mrd.
Euro pro Jahr gewachsen. 2005 wäre die Zahl der
Arbeitslosenhilfebezieher voraussichtlich auf 2,5 Mio. angestiegen.
Der Anstieg der Kosten für Hartz
IV spiegelt also vor allem das Steigen der Langzeitarbeitslosigkeit
in Deutschland wider. Schließlich wäre es aufgrund der
steigenden Arbeitslosigkeit auch unter dem alten System zu deutlichen
Kostensteigerungen gekommen. Nach Aussagen des Bundesministeriums für
Arbeit und Soziales (Ausschussdrucksache 16(11)197) wären die
Ausgaben für Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und Wohngeld für
Erwerbsfähige von 38,6 Mrd. Euro im Jahr 2004 auf 43,5 Mrd. Euro
im Jahr 2005 gestiegen. Die tatsächlichen Ausgaben für das
neue System betrugen im Jahr 2005 mit 44,4 Mrd. Euro nur knapp 0,9
Mrd. Euro mehr und dass obwohl unter dem neuen System 4,2 Mrd. Euro
für Rentenbeiträge von Langzeitarbeitslosen aufgebracht
werden, während es unter dem alten System nur 2,8 Mrd. Euro
waren. Dass die veranschlagten Ausgaben für Grundsicherung für
Arbeitssuchende 2006 mit 47,8 Mio. Euro noch einmal deutlich höher
liegen als 2005, liegt vor allem daran, dass ca. 3,6 Mrd. Euro mehr
Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stehen
als im letzten Jahr.
Gründe für steigende
BezieherInnenzahlen
Der Anstieg der Zahl der
Bedarfsgemeinschaften ist weniger auf Phänomene vermeintlicher
Zellteilung und Mitnahmementalität zurückzuführen, als
auf strukturelle Gründe. Im Wesentlichen sind für den
Anstieg der Zahl der Bedarfsgemeinschaften drei Faktoren
verantwortlich (vgl. auch BT-Dr. 16/1589 sowie WSI 2006):
- Erstens hat
Hartz IV offenbar dazu beigetragen die verdeckte Armut zu reduzieren,
die nach seriösen Schätzungen unter dem alten System bei 53
bis 64 (!) Prozent lag - ein aus unserer Sicht durchaus
begrüßenswerter Effekt, den es nicht abzuschwächen,
sondern zu verstärken gilt.
- Zweitens ist die Zahl der
Langzeiterwerbslosen weiter angestiegen (von 1,3 Mio. in 2003 auf 1,4
Mio. in 2004 und 1,5 Mio. in 2005). Drittens wurden durch die
Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I auf max. 18
Monate bewirkt, dass der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen
Erwerbslosen weiter wächst, da Erwerbslose früher ins ALG
II wechseln müssen.
- Außerdem trägt die Konzentration der Vermittlungsbemühungen der Bundesagentur für Arbeit auf so genannte "marktnahe Kunden" dazu bei, dass Erwerbslose mit geringen Vermittlungschancen vermehrt im SGB II landen.
Mythos II: Massenhafter Missbrauch
Missbrauch nur in geringem Umfang
Bereits für die Sozialhilfe
konnten verschiedene Studien (vgl. Martens 2006) zeigen, dass
Leistungsmissbrauch in diesem System mit 2 bis 3 Prozent der Fälle
und 150 Mio. Euro eher unerheblich ist.
Zu Missbrauch bei Hartz IV
existieren bisher keine fundierten wissenschaftlichen Studien. Der
automatisierte Abgleich von 3,2 Mio. Datensätzen, den die
Bundesagentur im Oktober 2005 durchgeführt hat, ergab knapp
60.000 Fälle von Missbrauch und einen Fehlbetrag von 26 Mio.
Euro. Dieser Betrag entspricht einem Anteil von 0,4 Prozent der
Summe, die insgesamt für Leistungen des SGB II ausgezahlt wird
(WSI 2006).
Der Leistungsmissbrauch ist also auch bei Hartz IV als
gering einzustufen. Die öffentliche Debatte darum steht in
keinerlei Verhältnis zu seinem Umfang und dient dem Zweck,
HilfebezieherInnen unter Generalverdacht zu stellen und den
Leistungsbezug zu delegitimieren.
Wenig Beachtung findet hingegen die
Tatsache, dass dem Staat durch Steuerbetrug jährlich
zweistellige Milliardenbeträge entgehen.
Bezug von Hartz IV:
Nicht Missbrauch, sondern gutes und notwendiges Recht
Vieles, was in
der ideologisch zutiefst aufgeladenen Debatte als Missbrauch
gebrandmarkt wird, hat damit nichts zu tun. Bei Missbrauch handelt es
sich um eine rechtswidrige Inanspruchnahme von Leistungen, die wie
gezeigt, keine große Rolle spielt. Werden Leistungen
rechtmäßig, aber in einem Umfang in Anspruch genommen, der
von PolitikerInnen nicht gewollt oder vorhergesehen war, spricht man
von Mitnahme. Wenn führende Sozialdemokraten wie Kurt Beck und
Peter Struck mahnen, man solle nicht alles in Anspruch nehmen, was
der Staat an Unterstützung bietet, haben sie diese Art der
Inanspruchnahme im Blick. Wer aber die berechtigte Inanspruchnahme
von Leistungen bezweifelt, stellt das Sicherungssystem grundsätzlich
in Frage. Die Aufforderung, freiwillig Verzicht zu leisten und auf
Geld, Steuervorteile und Vergünstigungen zu verzichten, die
ihnen rechtmäßig zustehen, sollten Beck und Co. auch
lieber an diejenigen richten, die sich den Verzicht leisten können.
BezieherInnen eines Existenzminimums sind hier sicher nicht die
richtige Adresse.
Mythos III: Leistungen zu hoch, Lohnabstand zu gering
Leistungsniveau zu niedrig
In der aktuellen Diskussion wird
häufig der Eindruck erweckt, als seien die Leistungen des ALG II
übermäßig generös. Die Leistungen des ALG II
liegen aber in etwa auf der Höhe der alten Sozialhilfe. Die
Regelsätze werden nach der sog. statistischen Methode bemessen,
die sich an den Ausgaben des unteren Fünftels der Bevölkerung
orientiert. Dabei werden noch bestimmte Abzüge von Ausgaben
vorgenommen, die als "nicht regelsatzrelevant" betrachtet
werden. Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisiert, dass
diese Abzüge sachlich nicht zu begründen sind und
Preissteigerungen bei dem Verfahren nicht berücksichtigt werden.
Nach seinen Berechnungen (DPWV 2006) müssten die Regelsätze
daher dringend um 20 Prozent auf 415 Euro angehoben werden, um
überhaupt auf einem sehr bescheidenen Niveau den täglichen
Bedarf abzudecken und ein Minimum an gesellschaftlicher Teilhabe
sicherzustellen. Ähnlich fordert DIE LINKE. eine sofortige
Erhöhung der Regelleistung auf 420 Euro.
Hartz IV macht mehr Menschen arm
Es wird immer wieder behauptet, durch
Hartz IV seien viele Menschen besser gestellt worden. Fakt ist aber:
- Die Mehrzahl der ehemaligen BezieherInnen von Arbeitslosenhilfe (60
Prozent) hat unter dem neuen System weniger Geld zur Verfügung.
- 25 Prozent haben ihren Anspruch auf staatliche Unterstützung
sogar komplett verloren (Becker/Hauser 2006).
Auch ehemalige SozialhilfebezieherInnen sind materiell nicht besser gestellt. Der Regelsatz von Hartz IV ist nur deshalb höher, weil die in der Sozialhilfe üblichen Einmal- und Sonderzahlungen als Pauschale integriert wurden. Diese beliefen sich im Schnitt auf ein Sechstel der alten Regelsatzsumme oder 49 Euro. Addiert man diese Summe zum alten Sozialhilfesatz West von 295 Euro landet man fast exakt bei den 345 Euro der heutigen Regelleistung. Hartz IV-BezieherInnen erhalten also nicht mehr Leistungen als ehemalige SozialhilfebezieherInnen, sondern verfügen nur qua Regelsatz über den durchschnittlichen Wert der früheren Einmal- und Sonderleistungen.
Mit Arbeit hat man fast immer deutlich
mehr
Das häufig vorgetragene Argument,
das Arbeitslosengeld II sei zu hoch und somit der Anreiz zur
Arbeitsaufnahme zu gering, beruht häufig auf unseriösen
Vergleichen und muss zurückgewiesen werden. Oft werden extrem
niedrig entlohnte Berufe (z.B. Friseurin, Kellner) zum Vergleich
herangezogen, die zudem in nicht unerheblichen Maß von
Trinkgeldern leben. Die familienpolitischen Leistungen wie das
Kindergeld und der Kinderzuschlag werden nicht systematisch
berücksichtigt und ein Hartz IV-Haushalt mit zwei Erwerbsfähigen
wird einem Alleinverdienerhaushalt gegenüber gestellt.
Seriöse
Gegenüberstellungen zeigen dagegen: Mit Arbeit hat man fast
immer deutlich mehr als mit Hartz IV. Bei einem Regelsatz von 345
Euro wird das Lohnabstandsgebot bei allen Haushaltskonstellationen im
Westen wie im Osten eingehalten (Martens 2006a). Alleine lebende
Arbeitslosengeld II-EmpfängerInnen, die immerhin fast 60 Prozent
der Bedarfsgemeinschaften ausmachen, haben bereits mit einem
Nettoeinkommen von ca. 700 Euro mehr als mit Hartz IV.
Aber auch für
eine vierköpfige Familie sind die Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitsuchende nicht so großzügig, dass sich eine
Arbeitsaufnahme nicht rechnen würde. Inklusive der Kosten der
Unterkunft bezieht ein Ehepaar mit zwei Kindern maximale Leistungen
in Höhe von 1.597 Euro, was allerdings nicht bedeutet, dass
dieser Betrag bei Erwerbstätigkeit netto nach Hause gebracht
werden müsste. Denn im Gegensatz zu Hartz IV, wo das Kindergeld
grundsätzlich auf die Regelleistung angerechnet wird, bekommt
ein Erwerbstätiger dieses zusätzlich zum Lohn, ebenso wie
den Kinderzuschlag von max. 140 Euro. Deshalb reicht bereits ein
Nettoeinkommen von etwa 1.000 Euro aus, um mehr als durch Hartz IV
zur Verfügung zu haben (WSI 2006). Außerdem muss dieses
nicht von einem allein erbracht werden. Wenn beide Partner ein
Erwerbseinkommen haben, was in den unteren Einkommensgruppen eher der
Realität entsprechen dürfte, müsste dieses jeweils
lediglich bei ca. 500 Euro liegen, damit die Familie mehr zum Leben
hat als mit Hartz IV.
Im Übrigen kann der Schluss aus der Existenz skandalös niedriger Löhnen in Teilen des Arbeitsmarkts nicht sein, das staatliche garantierte Existenzminimum zu senken, damit sich Arbeit wieder lohnt. Da dieses eine unterste Haltelinie im Sozialstaat bildet (die ohnehin zu niedrig liegt), müssen die Löhne erhöht, nicht das Minimum gesenkt werden, wenn der Abstand nicht mehr gegeben bzw. zu gering ist.
Quellen:
- Ausschussdrucksache 16(11)197 :
Unterrichtung durch das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales zum Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes
über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2006 (Haushaltsgesetz 2006) - Drucksache 16/750 - Entwurf zum Bundeshaushaltsplan 2006
Hier: Einzelplan 11, Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Arbeit und Soziales Becker, Irene/Hauser, Richard 2006:
Verteilungseffekte der Hartz-IV-Reform, Berlin: edition sigma
BT-Drucksache 16/1589: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine
Anfrage der Abgeordneten Katja Kipping, Dr. Martina Bunge, Diana
Golze, Inge Höger-Neuling und der Fraktion DIE LINKE. - Drucksache 16/1264 - Ursachen der
Zunahme der Anzahl der Bedarfsgemeinschaften nach dem Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch Martens, Rudolph 2006: Vermuteter Sozialmissbrauch
und gefühlte Kostenexplosion beim Arbeitslosengeld II. Ein
Vergleich mit empirischen Befunden zum Missbrauch von Sozialhilfe,
in: Soziale Sicherheit 11/2005 Martens, Rudolph 2006a: Der Abstand
zwischen Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld und unteren
Arbeitnehmereinkommen: Ergebnisse für die ab 2007 geplante
Regelsatzverordnung der Bundesregierung und den Paritätischen
Vorschlag eines fairen und sozial gerechten Regelsatzes 2006; Berlin:
DPWV DPWV 2006: "Zum Leben zu wenig." Für eine offene
Diskussion über das Existenzminimum beim Arbeitslosengeld II und
in der Sozialhilfe. Neue Regelsatzberechnung 2006, Berlin: DPWV
Schröder, Paul 2006: "Kostenexplosionsbericht"
Arbeitslosengeld, Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und
Jugendberufshilfe e.V. (BIAJ), 26. Mai 2006 WSI 2006: Aust,
Judith/Bothfeld, Silke/Leiber, Simone u.a.: Missbrauch und
Kostenexplosion bei Hartz IV? WSI-Thesen zur aktuellen
Reformdiskussion, Düsseldorf: WSI
von: Katrin Mohr und Manuela Wischmann, Referentinnen der Fraktion DIE LINKE.
im Bundestag