Sozialgericht: Prozesslawine schwillt an nach Hartz-IV-Urteil
Das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen des Arbeitslosengeldes 2 wird beim Dortmunder Sozialgericht offenbar eine Flut neuer Prozesse nach sich ziehen. Schon im Vorjahr war die Zahl der Klagen stark angestiegen.
Das Sozialgericht Dortmund wird sich in den kommenden Monaten mit deutlich mehr Klagen gegen Hartz IV befassen müssen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den geltenden Regelsätzen löst eine Prozesslawine aus.
Schon im Jahr 2009 war die Anzahl der Klageeingänge um 10,8 Prozent zum Vorjahr gestiegen. „Das Ende des Anstiegs ist noch nicht erreicht”, befürchtet Ulrich Schorn, Richter und Pressesprecher am Sozialgericht.
Die Härtefall-Liste, die die Bundesagentur für Arbeit erstellt hat, werde zu weiteren Verfahren führen, so Schorn. Die Jobcenter erwarten in den nächsten Wochen vermehrt Anfragen für die in Aussicht gestellten Sonderleistungen. Dabei geht es etwa um verschreibungspflichtige Medikamente für chronisch Kranke oder um Putz- und Haushaltshilfen für Rollstuhlfahrer. Weniger klar umrissen sind die Kosten für Nachhilfeunterricht, die auch nur in Einzelfällen übernommen werden.
Liste ist nicht abschließend
Da die Liste aber nicht abschließend ist und vergleichbare Fälle ebenfalls unter die Härtefall-Klausel fallen können, dürfte klar sein: Wenn die Jobcenter die Anträge auf eine Härtefall-Regelung ablehnen, werden viele Bezieher des Arbeitslosengeldes II vor dem Sozialgericht klagen. „Wie damit umgegangen werden wird, muss sich zeigen”, sagt Ulrich Schorn. Bisher habe aber noch niemand mit bezug aufs Verfassungsgerichtsurteil geklagt.
Doch viel Arbeit wird nicht dann erst auf die 47 Richterinnen und Richter am Sozialgericht warten, sie graben bereis in Aktenbergen. Das zeigen auch die Zahlen aus 2009, die das Sozialgericht am Montag vorstellte. Insgesamt gingen im vergangenen Jahr 18 759 Klagen beim Sozialgericht ein, 2008 waren es 16 931. Das bedeutet eine Steigerung von 10,8 Prozent. Dabei verzeichnet das Schwerbehindertenrecht die höchste Zunahme an Eingängen. 4642 Menschen reichten 2009 Klage ein, 1242 mehr als noch 2008. In der Sparte Grundsicherung für Arbeitssuchende wurden ebenfalls mehr Verfahren eingeleitet: 5620 im Jahr 2009, ein Jahr zuvor 5360.
1612 Klagen aus Dortmund
Allein aus Dortmund reichten im vergangenen Jahr 1612 Menschen Klage ein (2008: 1379). Dagegen blieb die Zahl in Bochum konstant. Nach der Schließung von Nokia und dem Stellenabbau bei Opel wäre eigentlich ein Anstieg zu erwarten gewesen. Möglicherweise ist die Arge in Bochum nicht so streng zu ihren Kunden und die Klagen bleiben aus. „Die Arge Dortmund verhängt sehr schnell Sanktionen”, sagt Ulrich Schorn.
Verantwortlich für die Zahlen sei die schlechte wirtschaftliche Gesamtlage, glaubt Anita Schönenborn, seit April 2009 Präsidentin des Sozialgerichts. Gerade die Sorge um eine nicht gesicherte Zukunft führe dazu, dass immer mehr Menschen vor Gericht gehen. Noch ein Beispiel aus Bochum: Viele Opel-Mitarbeiter mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen haben Angst, beim Stellenabbau ganz oben auf der Liste zu stehen und versuchen, eine Erwerbsminderungsrente zu erwirken. „Wird sie abgelehnt, kommen sie zu uns”, sagt Schönenborn.
Ein „Grund zur Sorge” sei die ebenfalls nach oben tendierende Zahl der laufenden Verfahren. Momentan sind es 21 842 Prozesse (+ 12,5 Prozent). Ein Richter bearbeitet durchschnittlich 470 Verfahren im Jahr. Diese Menge ist mit der dünnen Personaldecke schwer zu schaffen. Zum Vergleich: Im Jahr 2004 kümmerten sich 40 Richter um 13 000 Verfahren.
Quelle: WAZ vom 22.02.10