"Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen"
Workfare statt Welfare: Irina Vellay zu einer ersten Studie über den "dritten Arbeitsmarkt" der Ein-Euro-Jobs. Zwei Jahre, von 2005 bis 2006, arbeitete eine sechsköpfige Forschungsgruppe zu den Wirkungen des zum 1. Januar 2005 in Kraft getretenen arbeitsmarktpolitischen Instruments der "Ein-Euro-Jobs". Unter demselben Titel, den sich auch die Arbeitsgruppe gab, liegt nun deren Abschlussbericht vor.
Die Dienstverpflichtung von Menschen – vornehmlich aus "den niederen Klassen" – zu einer Beschäftigung ist eine weit aus der Vergangenheit in die Gegenwart überkommene Konstruktion der jeweils Herrschenden. "Arbeitspflicht" als ihr Instrument ist dabei – bei allen Schwankungen im jeweiligen Gebrauch – historisch nie wirklich überwunden gewesen.
Die Konjunkturphasen und Abschwünge in der Nutzung desselben haben sich vorrangig danach entwickelt, wie sich die politisch-ökonomischen Prozesse formten und welche moralisch-ethischen Werte vorherrschend waren. Stets prägten Entrechten, Strafen, Disziplinieren, Aufbewahren, "Bessern" der Müßiggänger, Querulanten, Simulanten und sonst "Outlaws" die eine Seite des ausführenden Selbstverständnisses. Und stets prägte die Chance, die in diesem Ensemble zwar begrenzten, aber doch gegebenen Arbeitspotenziale zur Reduzierung der Kosten für deren Lebensunterhalt oder gar zur (Mit-)Finanzierung anderer Aufgaben zu nutzen, die andere Seite des verwaltenden Selbstverständnisses.
Dieser Widerspruch hat zuletzt über das Bundessozialhilfegesetz als Prinzip in das Arbeitslosengeld (ALG) II Einzug gehalten. Seine aktuelle Form als "Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung" – im Volksmund auch "Ein-Euro-Job" genannt – war Gegenstand einer empirischen Studie, die unter anderem von der Stiftung W in Auftrag gegeben und von der Diplom-Ingenieurin Irina Vellay mitorganisiert worden ist.
"Die Einübung von "Arbeit" unter unmittelbarem Zwang durch die Obrigkeit ist für einen erfolgreichen Einstieg in einen 1. Arbeitsmarkt hinderlich"
Frau Vellay, was genau haben Sie untersucht?
Irina Vellay: Dreierlei. Wir haben in einer Pilotstudie für ein umfangreicheres Forschungsvorhaben die Wirkungen des arbeitsmarktpolitischen Instruments "Arbeitsgelegenheit" zunächst mit Blick auf die individuelle Situation der Betroffenen untersucht. Zweitens die Veränderungen der Arbeitsbeziehungen im Rahmen von Erwerbsarbeit, wenn eine "fremde" Arbeitsform wie die Arbeitsgelegenheiten Einzug hält. Und drittens schließlich die Prozesse des institutionellen Wandels, also den Aufbau der neuen Institution ARGE.
Wie muss man sich einen solchen Untersuchungsablauf praktisch vorstellen?
Irina Vellay: Es handelt sich um eine qualitative Studie, um ein noch weitgehend unerschlossenes Forschungsfeld mit Methoden der gegenstandsnahen Theoriebildung zu öffnen. Ein solcher Weg wird wählt, wenn man wie im vorliegenden Fall durch große gesellschaftliche Umbrüche eine sehr unklare Situation vorfindet und die Wechselwirkungen der gesellschaftlichen Verschiebungen nur schwer zu beurteilen sind.
Wir haben also leitfadengestützte, problemzentrierte, teilnarrative Interviews mit Ein-Euro-Jobbern sowie Experteninterviews auf der Mitarbeiterebene in ARGE, Sozialamt, sozialgewerblichem Träger etc. geführt. Bei einem der Experteninterviews war ein leitender Mitarbeiter dabei.
Wie viele Leute haben Sie befragt? Ist so etwas repräsentativ?
Irina Vellay: Wir haben 10 Interviews mit einer Dauer von 90 bis 180 Minuten ausgewertet. Eine qualitative Untersuchung ist nie repräsentativ. Mit einer solchen Vorgehensweise werden andere Zwecke verfolgt: In der Regel geht es darum, zunächst neue Fragestellungen zu entwickeln. Anders als in einer repräsentativen Studie, die in der "Breite" angelegt ist, werden hier punktuell "Tiefenanalysen" gemacht.
Wir können aber z. B. sagen, dass die in unserer Untersuchung genannte "Vermittlungsquote" (5% in den 1. Arbeitsmarkt, weitere 5% in die Förderkette, 90% weiterhin langzeitarbeitslos) sich in guter Gesellschaft mit anderen Studien befindet, bspw. dem IAB-Bericht Anfang 2007.
Sie schreiben in Ihrem Ergebnisbericht recht offen, dass Sie von Anfang an gegen besagte Ein-Euro-Jobs waren. Wie verträgt sich eine derart politische Prämisse mit ergebnisoffener, unvoreingenommener Wissenschaft?
Irina Vellay: Wer hat Ihnen denn dieses Märchen von der "unvoreingenommenen Wissenschaft" erzählt? Ich will nicht zu weit ausholen, aber seit der Entdeckung und Entwicklung der Quantenphysik in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts weiß man, dass der Standpunkt der Beobachtenden entscheidend dafür ist, ob etwas als Teilchen oder als Welle interpretiert wird. Es gibt keine "wertfreie" und "allgemein objektive" Wissenschaft, sondern immer mehrere Objektivitäten, die immer von der eigenen Beobachtungsposition abhängen. Deshalb ist es so wichtig, diese genau zu benennen.
Ich kann mich an Zeiten in den USA erinnern, da gehörte es zum guten Ton, bevor man seinen Standpunkt darlegte, zu sagen, welchen politischen, sozialen und ethnischen Hintergrund man hat, damit klar wurde, vor welchem Hintergrund die vorgetragenen Argumente zu verstehen sind.
Ihre Forschungen sind nun beendet. Was sind die bezeichnendsten Ergebnisse für Sie?
Irina Vellay: Die Vorstudie ist beendet und in 2008 kann hoffentlich die ebenfalls qualitative, vertiefende Hauptuntersuchung mit einem größeren Sample durchgeführt werden. Die wichtigste Erkenntnis scheint mir zu sein, dass es sich bei den Arbeitsgelegenheiten nicht um ein "arbeitsmarktpolitisches Instrument" handelt, sondern politisch gewollt ein anderer Anwendungsbereich angezielt wurde, der in der politischen Öffentlichkeit zurzeit mit dem Begriff "Dritter Arbeitsmarkt" oder "Sozialer Arbeitsmarkt" bezeichnet wird.
Was meinen Sie damit? Was heißt das konkret?
Irina Vellay: Das erklärte Ziel der Vermittlung in den 1. Arbeitsmarkt ist eine Worthülse, die verschleiern soll, dass es für viele Menschen keine Verwendung gibt, weil sie bei den harschen Leistungsanforderungen nicht mithalten können. Eine solche rigide Auslese lässt sich allerdings nur durchsetzen, weil es insgesamt ein deutlich größeres Arbeitskräftepotenzial gibt, als überhaupt sinnvoll in den Kapitalverwertungsprozess integriert werden kann. Der "Dritte oder soziale Arbeitsmarkt" ist so auch gar kein "Markt", sondern beinhaltet die unbezahlte Arbeitspflicht bei Bezug von Transferleistungen für grundsätzlich erwerbsfähige Arbeitslose.
Aus den uns bislang vorliegenden Ergebnissen können wir begründet vermuten, dass die Einübung von "Arbeit" unter unmittelbarem Zwang durch die Obrigkeit tatsächlich sogar eher hinderlich für einen erfolgreichen Einstieg in einen 1. Arbeitsmarkt ist, der ein hohes Maß an Selbststeuerung voraussetzt.
Es gibt keine zusätzliche, sondern nur bezahlte und unbezahlte Arbeit
Die Träger, bei welchen Ein-Euro-Jobber eingesetzt werden, sollten ja, soweit ich weiß, alle als gemeinnützig anerkannt sein, die Arbeitsgelegenheiten zudem "zusätzlich" sein?
Irina Vellay: Ja. Allerdings ist unübersehbar, dass immer mehr Versuche gemacht werden, private Ausnutzung zu ermöglichen, zum Beispiel über Praktika in Betrieben.
Zudem wird deutlich, dass es gar keine "zusätzliche" Arbeit gibt, sondern nur solche, die bezahlt wird, und eben solche, die unbezahlt bleibt. Die immer wieder aufgeführten Handlungsfelder und Tätigkeiten für "gemeinnützige Arbeit" sind regelmäßig Aufgabenfelder de facto öffentlicher Dienstleistungen. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass mit dem Einsatz von Arbeitsgelegenheiten kein professionelles Leistungsniveau mehr erwartet wird. Bei der Kinderbetreuung z. B. werden die Kinder dann eben im Sinne des Babysitting "verwahrt": Die "Produktivität" in Ein-Euro-Jobs, wenn sie denn abgefragt wird, beträgt etwa ein Drittel derjenigen in regulärer Beschäftigung oder es muss mit einem etwa dreifachen Zeitaufwand gerechnet werden.
Wie muss man sich den Arbeitsalltag eines Ein-Euro-Jobbers oder einer Ein-Euro-Jobberin konkret vorstellen? Haben Sie ein Beispiel, das exemplarisch die Probleme der Betroffenen offenbart?
Irina Vellay: Zwischen nicht selten sehr viel Arbeit, wenn sie wirklich arbeiten dürfen, bei wenig Anerkennung jenseits vielleicht "warmer Worte", und dem Herumstehen von Hilfskräften, die eher stören als hilfreich sind.
Die Betroffenen müssen oft die letzten, schmutzigsten Arbeiten verrichten, die sonst keiner machen will, sie werden häufig als Lückenbüßer, Springer oder Urlaubsvertretungen genutzt. In der Regel werden sie nicht in die Arbeitsbeziehungen der regulär Beschäftigten einbezogen.
Uns ist beispielsweise der Fall berichtet worden, wo eine Hauswirtschaftshilfe Arbeitstage von bis zu 17 Stunden zu bewältigen hatte. Zugleich wurde die Arbeitszeit je nach Bedarf über mehrere Phasen am Tag verteilt und bei Ausfall anderer Mitarbeiter eine Rufbereitschaft unterstellt. Kein anderer regulär beschäftigter Mitarbeiter hatte derart schlechte Arbeitsbedingungen – von der Gesetzwidrigkeit ganz zu schweigen. Da die Ein-Euro-Jobber keine regulären Mitarbeiter sind und das arbeitsrechtliche Regelwerk auf sie in der Regel nicht angewandt wird, wird eben alles gemacht, was nicht ausdrücklich verboten ist – und das ist viel.
Faktisch sind die betroffenen Ein-Euro-Jobber so mit einem rechtsfreien Raum konfrontiert und müssen zu 90 % damit rechnen, dass sie anschließend weiterhin erwerbslos sind. Denn die von ihnen ausgeführten Arbeiten werden am Markt gar nicht nachgefragt. Es gibt nun mal keine regulären Stellen im Bereich "ästhetische Reinigung" bei den Kommunen oder als "Verkehrsschilderputzer" wie jüngst in Wuppertal, sondern das sind immer Ein-Euro-Jobber.
Einblicke in den künftigen Umgang mit den gesellschaftlich "Überflüssigen"
Während Ihrer Interviews und Ihrer Feldarbeit - was hat sie da am meisten emotional berührt?
Irina Vellay: Es betrifft einen jede Geschichte, denn die Menschen in diesen Verhältnissen leben immer "an der Grenze" oder sind schon über sie hinaus gedrängt worden und die Art und Weise, in der sie sich fügen oder wehren, Lösungen suchen, scheitern oder "ihre Ecke finden", berührt zutiefst. Dies gilt in anderer Form übrigens auch für manche Menschen in den "betreuenden" Institutionen, die ihr Verständnis von ihrem Job, der Verwaltung des Elends und der Konfrontation mit ihm, im Innersten selbst suchen müssen.
Das klingt weder danach, als erhielten, wie die Bundesagentur für Arbeit einst kundtat, Betroffene eine "neue Perspektive", noch als wäre der "dritte Arbeitsmarkt" etwas, das mit Arbeit zu tun hätte, zumindest, insofern man diese als menschenwürdige versteht?
Irina Vellay: Sie haben mit Ihrer Wahrnehmung völlig recht. Die Menschen geraten in persönliche unmittelbare Abhängigkeit - und das nicht selten auf Dauer. Jedenfalls tritt diese Seite der sozialen Existenz wieder deutlicher hervor. Die Frage ist, welche Schlussfolgerungen man daraus zieht. Die Einführung von Zwangsverhältnissen ist in jedem Fall abzulehnen - jede Entwicklung muss sich daran messen lassen, ob daraus ein Zugewinn an Selbstbestimmung und Entfaltungsmöglichkeiten für die Einzelnen entsteht.
Welche Schlussfolgerungen lassen sich Ihrer Meinung nach daraus ziehen, dass die vorliegenden Ergebnisse so wenig mit den eigentlich für diese Maßnahmen proklamierten Zielstellungen – "neue Chancen", in Arbeit bringen etc. - in Einklang zu bringen sind?
Irina Vellay: Wie bereits gesagt, es geht den Herrschenden, vertreten durch die bürgerlichen politischen Parteien, um einen anderen als den proklamierten Anwendungsbereich. Insofern sind auch keine der angekündigten Erfolge am 1. Arbeitsmarkt zu erwarten. Hier zeichnen sich Strategien ab, wie man in Zukunft mit den "Überflüssigen" in der Gesellschaft umgehen will.
Wie meinen Sie das?
Irina Vellay: Ein wachsender Teil der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland bleibt auch in Zukunft dauerhaft aus existenzsichernder Erwerbsarbeit ausgegrenzt, weil ihre Arbeitskraft nicht profitträchtig genug verwertet werden kann und weil sie für das geforderte Leistungsniveau zu alt, zu krank oder einfach nicht so wie angefordert ausgebildet sind. Kurz gesagt, sie sind für die Kapitalverwertung "überflüssig" und schmälern durch die anfallenden Unterhaltungskosten auch noch die durchschnittliche Profitrate des Kapitals.
Hier sinnt man auf Abhilfe und ist auf die Idee gekommen, dass die "Restproduktivität" dieser Menschen hinreichen könnte, einen Unterhalt am Existenzminimum annähernd zu gewährleisten. Bislang steht der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für Transferleistungsempfänger allerdings noch das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes entgegen. Sobald jedoch der EU-Vertrag in bisher bekannter Form Gültigkeit erlangt, werden diese Regelungen aufgehoben, da dieser Vertrag keine vergleichbaren Regelungen enthält.
Was also tun?
Irina Vellay: Es gibt nach wie vor erheblichen Aufklärungsbedarf, auch wenn jeder und jede zu wissen glaubt, dass es sich hier um Repressionen handelt, die natürlich abzulehnen sind. Die wesentliche Verschiebung ist, dass den Betroffenen die Bürgerrechte abgesprochen werden, weil sie nicht mehr Vertragssubjekt sind. Das bürgerliche Recht, z. B. das BGB, basiert auf der Idee des Vertrages zwischen zumindest formal gleichen Parteien. Ein Vertrag kann danach nur aus freiem Willen geschlossen werden oder er erlangt keine Rechtsgültigkeit.
Im Rahmen der für erwerblose Leistungsempfänger vorgesehenen Eingliederungsvereinbarung soll jedoch die Behörde eine Unterschrift mit der Androhung von Sanktionen bis hin zum vollständigen Leistungsentzug erzwingen können. Damit ist für die erwerbsfähigen Transferleistungsbezieher als nicht gerade kleiner Teil der Gesellschaft die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft aufgekündigt. Das hat weitreichende Konsequenzen. Wie dünn das "Eis" ist, zeigt sich daran, wie schnell menschenverachtende Verhaltensweisen um sich greifen. So wurde uns außerhalb der Studie von einem Fall beim Dortmunder Tiefbauamt berichtet, wo ein schwer Körperbehinderter gezwungen wurde, beim Müllsammeln den Sack mit den Zähnen zu halten, damit er mit dem gesunden Arm den Müll einfüllen konnte.
Quelle: telepolis vom 09.10.07