HARTZ IV: Wie aus mehr weniger wird - Die Bundesregierung benutzt Hartz IV, um klammheimlich die Sozialhilfe zu senken
Quelle: DIE ZEIT, Nr.52 vom 16.12.04
HARTZ IV
Wie aus mehr weniger wird
Die Bundesregierung benutzt Hartz IV, um klammheimlich die Sozialhilfe zu senken
Von Marie-Luise Hauch-Fleck
Eigentlich müsste Herr P. sich auf das neue Jahr freuen. Denn wenn er am 1. Januar aufwacht, wird aus ihm, dem Sozialhilfeempfänger, ein Kunde der Bundesagentur für Arbeit geworden sein – mit Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Das heißt, er bekommt mehr Geld: Statt bisher 475,25 Euro stehen ihm und seiner 13-jährigen Tochter dann monatlich 530 Euro zu. Aufs Jahr gerechnet, ist das ein Plus von 657 Euro, viel Geld für jemanden, der mit jedem Cent rechnen muss.
Erstaunlich nur: Herr P. freut sich kein bisschen. Akribisch, wie er ist, hat er alles sorgfältig durchgerechnet. Und dabei festgestellt, dass ihm und seiner Tochter im nächsten Jahr nicht 657 Euro mehr, sondern rund 1232 Euro weniger zum Leben bleiben.
Die Berechnung schien Guido Kläser, dem Leiter des Erfurter Amtes für Sozial- und Wohnungswesen, das Herrn P. betreut, ziemlich absurd. Deshalb wies er einen Mitarbeiter an, die Angaben Punkt für Punkt zu überprüfen. Das Ergebnis hat Kläser total überrascht: »Alles, was Herr P. berechnet hat, stimmt.«
Dass selbst ein Experte wie Kläser die finanziellen Folgen von Hartz IV für die Betroffenen nicht überschaut, ist allerdings nicht so erstaunlich. Bislang wird die Sozialhilfe nämlich in laufende und einmalige Leistungen zum Lebensunterhalt unterteilt. Die laufenden Leistungen beispielsweise für Essen, Trinken oder Haushaltsführung werden durch den so genannten Regelsatz abgedeckt (Wohnungs- und Heizkosten werden bei der Sozialhilfe wie auch beim ArbeitslosengeldII zusätzlich übernommen). Die einmaligen Leistungen hingegen müssen individuell beantragt werden. Dazu gehört Geld für Kleidung, Schulbücher oder Ranzen, für Haushaltsgeräte, Fahrräder oder die Reparatur von Elektrogeräten. Extraunterstützung gibt es zudem für Weihnachten und besondere Ereignisse wie Beerdigungen oder Taufen. Wie viel Unterstützung Sozialhilfeempfänger zusätzlich zum Regelsatz von derzeit durchschnittlich 291 Euro erhalten, hängt demnach vom individuellen Bedarf ab. Wer beispielsweise keine Kinder hat, die in die Schule gehen, muss auch keinen Ranzen kaufen. Und wer gerade einen Herd bekommen hat, wird voraussichtlich auch so schnell keinen neuen brauchen.
Doch mit dieser, am Einzelfall orientierten Hilfe ist im neuen Jahr Schluss. Von Anfang Januar an gibt es nur noch einen so genannten pauschalierten Regelsatz. Der ist für Arbeitslosengeld-II- und Sozialhilfeempfänger gleich hoch und muss für alle Ausgaben reichen. Nur für wenige Fälle gibt es noch Sonderleistungen: etwa bei Schwangerschaft, der Ersteinrichtung einer Wohnung oder bei längeren Klassenfahrten. Diese Neuregelung verbessere, so verkündete das zuständige Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMSG) in einer Pressemitteilung, »die Situation der betroffenen Menschen«. Schließlich, so das Argument, seien alle wesentlichen einmaligen Leistungen bei der Neuberechnung pauschal berücksichtigt. Entsprechend größer sei zukünftig auch die Freiheit der Empfänger, selbst über die Verwendung des Geldes zu bestimmen. Vergleicht man die alten und neuen Regelsätze, erscheint dieses Argument auf den ersten Blick durchaus plausibel. Immerhin wird der Regelsatz von derzeit durchschnittlich 295 auf 345 Euro (West) beziehungsweise von 285 auf 331 Euro (Ost) erhöht.
»Die Infamie des Verfahrens wird nur dem deutlich, der tagelang rechnet«
Es klingt paradox. Aber tatsächlich bedeutet das Mehr für viele ein deutliches Weniger, wie nicht nur die Fleißarbeit des Erfurter Sozialhilfeempfängers belegt. Rot-Grün habe die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe dazu genutzt, den »Regelsatz ganz gezielt runterzurechnen«, kritisiert Matthias Frommann, Rechtsprofessor an der Fachhochschule Frankfurt. Im Klartext: Sozialhilfeempfänger werden keineswegs generell besser, sondern viele Arbeitslosengeld-II-Bezieher werden sogar schlechter gestellt sein, als sie es bisher mit der Sozialhilfe waren – »ohne dass ihnen das auch nur angekündigt wird«, empört sich Helga Spindler, Jura-Professorin an der Universität Essen. Die Festsetzung des Existenzminimums sei, das räumt die Sozialhilfeexpertin ein, letztlich eine sozialpolitische Entscheidung. Aber wer es kürzen wolle, solle das offen ausweisen und zur Diskussion stellen, fordert sie.
Genau das aber macht Rot-Grün nicht. Denn obwohl der Regelsatz de facto das Mindesteinkommen definiert, das für ein menschenwürdiges Leben nötig ist und seine Festlegung, so Spindler, »das Fundament des sozialen Rechtsstaates berührt«, setzte die Regierung ihn unter Ausschluss der Öffentlichkeit fest. Nicht einmal Parlamentarier der Regierungsfraktion waren beteiligt. »Das lief in einem eher klandestinen Verfahren ab«, sagt Markus Kurth, sozialpolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion. Dabei sind die Kürzungen so drastisch, dass Ralf Rothkegel, Richter am Bundesverwaltungsgericht, Bedenken hat, ob der Staat noch seiner Verfassungsaufgabe gerecht wird, »die Mindestvoraussetzung für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger zu sichern«.
Es gebe, warnt Rothkegel in einem Fachaufsatz, »verschiedene Gründe, daran zu zweifeln, dass die neuen Regelsätze dem Verfassungsgebot einer ausreichenden Existenzsicherung genügen werden«.
Dass dies bislang nur eine Hand voll Sozialhilfeexperten überhaupt gemerkt hat, ist kein Zufall: Konkrete Angaben beispielsweise, wie die bisherigen einmaligen Leistungen in die neuen Sätze eingerechnet sind, hält die Regierung unter Verschluss. »Die Infamie des Verfahrens wird nur dem deutlich, der sich zwei, drei Tage hinsetzt und alles durchrechnet«, kritisiert Matthias Frommann die Vernebelungstaktik.
Die Mühe hat der Frankfurter Professor jedoch nicht gescheut und ist dabei auf haarsträubende Ungereimtheiten gestoßen: Laut Gesetz muss der Regelsatz so bemessen werden, dass er ausreicht, um den »notwendigen Lebensunterhalt«, das heißt Ausgaben für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat sowie »in vertretbarem Umfang« auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben zu ermöglichen. Bei Kindern gehört dazu auch der durch »ihre Entwicklung und ihr Heranwachsen« bedingte Bedarf.
Als Maßstab für die Ermittlung dieser Bedarfe dienen die Konsumausgaben jener 20 Prozent bundesdeutscher Haushalte mit den niedrigsten Einkommen, die das Statistische Bundesamt alle fünf Jahre in der Einkommens-und Verbrauchsstichprobe ermittelt. So jedenfalls steht es im Gesetz. Tatsächlich aber hat die Regierung nicht diese Ausgaben zugrunde gelegt, sondern nur die von Einpersonenhaushalten. Mit gravierenden Folgen, wie die Berechnungen von Matthias Frommann zeigen. Denn die Ausgaben pro Kopf der Einpersonenhaushalte sind deutlich niedriger als die der Haushalte mit geringem Einkommen insgesamt. Bei Bekleidung und Schuhen beispielsweise beträgt die Differenz rund 57 Prozent, bei den Nahrungsmitteln, Getränken und Tabakwaren immerhin noch 28 Prozent.
Leisten sich Geringverdiener wirklich Boote und Segelflugzeuge?
Doch selbst diese niedrigeren Werte hat die Regierung kräftig gestutzt – und zwar dadurch, dass die Ministerialen die erhobenen Ausgaben nach eigenem Gusto als »regelsatzrelevant« anerkennen oder eben auch nicht. Dass diese Einschätzung rein subjektiv geschieht, räumt das zuständige BMSG offen ein: »Ein objektives, allgemein anerkanntes Raster steht hierfür nicht zur Verfügung, sodass Einschätzungen und Bewertungen erforderlich sind«, heißt es in der Begründung der Regelsatzverordnung. So kommt es, dass beispielsweise der Posten Bekleidung von den Bürokraten lediglich mit 89 Prozent in den Regelsatz einfließt. Die erstaunliche Begründung in der Verordnung: Bei dieser Position seien ja auch Ausgaben für Maßkleidung und Pelze enthalten. Ähnlich skurril: Den Posten Freizeit, Unterhaltung und Kultur rechnen die Experten von 86 Euro auf 36 Euro herunter, weil sie dort unter anderem Ausgaben für Sportboote und Segelflugzeuge vermuten. Die 36 Euro müssen etwa für Zeitschriften und Bücher, Rundfunk- und Kabelgebühren oder auch Schreibwaren und Musikinstrumente reichen. Selbst Haustiere gelten den Beamten als Luxus, der Sozialhilfeempfängern nicht zusteht: Den Posten (4 Euro) haben sie gestrichen. Warum aber »ein Wellensittich, Hamster, Hund oder eine Hauskatze« nicht zu einer Lebensführung gehören soll, die, laut Rechtsprechung, »der eines Nicht-Bedürftigen in einer unteren Einkommensgruppe ähnlich ist«, ist für Matthias Frommann »unerfindlich«. Nach seiner Rechnung müsste der Regelsatz, wenn man nur die nachweisbar nicht regelsatzrelevanten Ausgaben abziehen würde, 30 Prozent höher sein: Statt 345 Euro wären es 448 Euro. Auch für Ralf Rothkegel sind die Kürzungen wenig überzeugend. »Die Forderung: Kein Platz im Regelsatz – Segelflugzeuge müssen draußen bleiben« sei gewiss konsensfähig, spottet der Richter über die ministeriale Rechnerei. Doch was »ist das für statistisches Material, das bei Geringverdienern einen signifikanten Konsum von Luxusgütern belegt?«, wundert er sich.
Dass mit den neuen Sätzen kaum »gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen« geschaffen werden, wie dies das Sozialgesetzbuch in Paragraf I als Ziel formuliert, dürfte auch den Experten im Ministerium klar gewesen sein. Doch die hatten eine klare Vorgabe: Am Ende musste ihre Rechnerei 345 Euro für den Sozialhilferegelsatz ergeben. Denn so viel sieht Hartz IV als Regelleistung für das Arbeitslosengeld II vor. Das Gesetz allerdings war schon Monate vor der Neuberechnung der Sozialhilfesätze verabschiedet worden. Höher als das »ALG II« durften die in keinem Fall sein, schließlich definieren sie das Existenzminimum.
(c) DIE ZEIT 16.12.2004 Nr.52