Zu den Angriffen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit auf den Leitfaden Alg II/Sozialhilfe von A-Z
Stellungnahme der Autoren Rainer Roth und Harald Thomé
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit bezichtigt uns als Autoren des Leitfadens Alg II/Sozialhilfe von A-Z, wir würden "Beihilfe zum Betrug statt Beratung" betreiben und Sozialbetrug "als eine Art 'Notwehr' gegen soziale Einschnitte rechtfertigen".
Welche Beweise gibt es für diese schwerwiegende Anklage?
1) Beihilfe bei Interessenvertretung als Beihilfe zum Betrug?
Als Beleg für "Empfehlungen, die sich leicht als Ideen zum Sozialbetrug verstehen lassen" dient dem Ministerium ein auf der Umschlagrückseite abgedrucktes Gedicht von Erich Fried. Dieser wünscht den Armen für eine bessere Zukunft, sie sollten im Kampf gegen die Reichen so unbeirrt, findig und beständig sein, wie die Reichen im Kampf gegen die Armen. Arbeitslose und Arme müssen vielfach allein schon deshalb findig und unbeirrt sein, um nachweisen zu können, dass sie Anträge und Unterlagen überhaupt abgegeben haben bzw. um das ihnen zustehende Geld zu bekommen. (vgl. die Ergebnisse der Umfrage der Stiftung Warentest in Finanztest 11/2005) Das Ministerium rückt die Interessenvertretung für Arbeitslose als solche schon in die Nähe des Betrugs.
Vertreten aber nicht auch Behörden und Ministerien Interessen, z.B. ihre eigenen und/oder die der Wirtschaft? Ist nicht auch auf dieser Basis Betrug möglich? Die Interessenvertretung von Arbeitslosen abzulehnen, leistet den Unregelmäßigkeiten der Behörden Vorschub. Dass es einen Kampf der Reichen gegen Arme gibt, ist keine "billige Klassenkampfparole". Es wird allein dadurch belegt, dass das Ministerium unter dem Beifall der Arbeitgeber Arbeitslose in seinem Missbrauchsreport pauschal diskriminiert, während es gleichzeitig für weitere Steuersenkungen für "die Reichen" eintritt, denen Steuerbetrug gewiss nicht fremd ist.
Was ist der Report Anderes als eine Art Klassenkampf mit billigen Parolen?
2) Eheähnliche Gemeinschaft: Information über ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Beihilfe zum Betrug?
Als Beihilfe zum Betrug wird gewertet, dass wir "den Geist der neuen Grundsicherung auf den Kopf stellen".
Wir weisen nämlich darauf hin, dass eine eheähnliche Gemeinschaft nur dann besteht, wenn jemand sein Einkommen vorrangig für seinen Partner einsetzen will, bevor er seine eigenen Verpflichtungen erfüllt.
Das entspricht dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17.11.1992, in dem es heißt: "Ohne rechtlichen Hinderungsgrund kann der mit dem Arbeitslosen nicht verheiratete Partner auch jederzeit sein bisheriges Verhalten ändern und sein Einkommen ausschließlich zur Befriedigung eigener Bedürfnisse oder zur Erfüllung eigener Verpflichtungen einsetzen. Wenn sich ein Partner entsprechend verhält, besteht eine eheähnliche Gemeinschaft nicht oder jedenfalls nicht mehr." (Leitfaden S. 62) Dieses Urteil wurde am 2.9.2004 nochmals bestätigt.
Wie alle Entscheidungen des BVerfG hat es laut Grundgesetz Gesetzescharakter. Minister Clement müsste also in diesem Fall statt uns eigentlich dem Bundesverfassungsgericht selbst "Beihilfe zum Betrug" und "Verbrüderung mit Abzockern" vorwerfen. Denn wir werden ja des Betrugs verdächtigt, weil wir über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts informieren. Da die Behörden ihrer Beratungs- und Auskunftspflicht nach den § 14 und 15 SGB I nicht nachkommen, müssen "Helfershelfer" wie wir das übernehmen.
Das gefällt Behörden nicht, die eine Kuhle in einem Doppelbett, Männerunterhosen auf einer Wäscheleine oder die Anwesenheit eines Mannes in der Wohnung einer Frau als Vorwand nehmen, um Leistungen zu streichen und sich einen finanziellen Vorteil zu verschaffen. Laut BGB gibt es keine Unterhaltspflichten zwischen nicht-verheirateten Paaren. Eine eheähnliche Gemeinschaften liegt deshalb nur bei freiwilligen realen Zahlungen vor. Das Bundesministerium dagegen will am liebsten aus jedem Zusammenleben eines Mannes mit einer Frau eine Unterhalts- und Einstandsgemeinschaft machen. Dadurch werden Anspruchsberechtigte um ihnen zustehende Leistungen betrogen.
Der "Geist der neuen Grundsicherung" verstößt nicht nur in diesem Fall gegen geltendes Recht, sondern auch, indem Stiefeltern und eheähnliche Partner durch das SGB II für die Kinder des Partners voll unterhaltspflichtig gemacht werden. (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II) Das BMWA hat die Anwendung dieses rechtswidrigen Paragrafen ab 20.09.2005 zurückgenommen, nachdem Gerichte seine Rechtswidrigkeit festgestellt und Betroffene, auch gestützt auf unseren Leitfaden, dagegen protestiert hatten. Bis jetzt wurde die durch diesen Rechtsbruch in Millionenhöhe eingesparten Gelder nicht zurückgezahlt.
Zur Erinnerung: Betrug liegt laut Strafgesetzbuch dann vor, wenn jemand "in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung und Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält". (§ 263 StGB) Wir jedenfalls haben keine falschen Tatsachen vorgespiegelt. Bei uns jedenfalls können wir keine Beihilfe zum Betrug feststellen.
3) Erklärung der Bedingungen und Folgen von Schwarzarbeit als Aufforderung zur Schwarzarbeit?
Das BMWA wirft uns vor, wir würden Schwarzarbeit mit den Hinweis "entschuldigen", dass Alg II/Sozialhilfe "nicht bis zum Monatsende reicht". Das gilt als Beleg für Beihilfe zum Betrug.
Wir haben im Leitfaden erklärt, dass dieser Umstand sowie die kleinlichen Anrechnungsvorschriften bei Erwerbstätigkeit Schwarzarbeit "begünstigen". (S. 203) Schwarzarbeit kann also dadurch vermindert werden, dass Leistungen erhöht und die Anrechnungsvorschriften verbessert werden. Dafür treten wir ein.
Eine Sache (teilweise) zu erklären, heißt nicht, sie zu entschuldigen und zu billigen. Wer Gesetzesverletzungen wie Diebstahl, Mord usw. erklärt, ruft nicht schon deshalb dazu auf. Dinge verändern zu wollen, setzt immer voraus, sie zu verstehen.
Wir geben den Ratschlag, darauf zu achten, dass bei Rückforderungen nicht angegebener Arbeitseinkommen nur Alg II/Sozialhilfe zurückverlangt wird, nicht aber andere angerechnete Einkommen, die die Behörde auf sich übergeleitet hat. Wir warnen also davor, einen Betrug mit einem weiteren Betrug seitens der Behörde zu beantworten. Das kreidet das BMWA uns an. Warum?
Uns wird ferner angelastet, dass wir Arbeitslose nicht vor Schwarzarbeit warnen. Auch die Informationsbroschüre der Bundesagentur für Arbeit von September 2004 warnt nicht vor Schwarzarbeit. Folgt daraus, dass auch die BA Schwarzarbeit fördert?
Im übrigen gibt es Schwarzarbeit nur, weil es Unternehmer gibt, die Arbeitslose schwarz arbeiten lassen.
4) Dürfen "gesetzesuntreue" Behörden keine "natürlichen Gegner" sein?
Das BMWA wirft uns vor, wir würden Arbeitsagenturen und Sozialverwaltungen als "natürliche Gegner" ansehen.
Als Beleg dient, dass wir den Ausspruch eines Trierer Sozialamtsleiters aus dem Jahre 1976 zitieren:" Wenn wir die Leute über ihren Anspruch aufklären würden, wären wir schnell pleite. Um überleben zu können, müssen wir gesetzesuntreu sein, und wir sind es auch." (Der Spiegel 52/1976, S.52)
Das BMWA bezeichnet dieses Zitat 30 Jahre später als "angebliches Zitat"? Soll es eine Erfindung des Spiegel sein?
Der Sozialamtsleiter gab offen Rechtsbruch zu, denn im SGB I heißt es: "Die Leistungsträger, ihre Verbände und die sonstigen in diesem Gesetzbuch genannten öffentlichrechtlichen Vereinigungen sind verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Bevölkerung über die Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch aufzuklären." (§ 13 SGB I Aufklärung) Dass die Behörden dieser gesetzlichen Aufklärungspflicht nicht nachkommen, war 1976 Ausgangspunkt für den Leitfaden, dessen Autoren heute wir sind.
Wir erklären, die Aussage des Sozialamtsleiters würde auch heute noch gelten. Das BMWA kreidet uns "simpelste Feindbilder" an, weil wir das behaupten, "ohne irgendeinen Hinweis darauf vorzulegen."
Das BMWA glaubt offensichtlich, dass die Arbeitsagenturen die Bevölkerung heute über ihre Ansprüche (Rechte und Pflichten nach dem SGB II und SGB XII bzw. nach den SGB I und SGB X usw.) aufklären.
Wir reiben uns erstaunt die Augen. Haben wir die Leitfäden übersehen, mit denen die Bundesagentur bzw. das BMWA alle Alg II-Bezieher so umfassend aufklärt, wie wir es tun? Wir bitten um Zusendung.
Hat die BA inzwischen ihre Durchführungshinweise zum SGB II veröffentlicht? Haben die Optionskommunen Leitfäden herausgegeben?
Trotz gesetzlicher Verpflichtung gibt es vielerorts nicht einmal Persönliche Ansprechpartner. Und wenn sie vorhanden sind, kennen sie sich oft mangels ausreichender Schulung, Berufsfremdheit und befristeter Einstellung kaum aus.
Allein die Existenz und die weite Verbreitung des Leitfadens beweisen indirekt, dass die Behörden ihre gesetzlichen Aufklärungspflichten nicht ausreichend wahrnehmen. Unser Leitfaden ist keine Beihilfe zum Betrug, sondern Beihilfe zur Aufklärung über das SGB II und das SGB XII. Die Abqualifizierung als "windig" und "polemisch" dient dazu, gerade das noch mehr zu erschweren.
Mit der wachsenden Kompliziertheit der Gesetze, dem mangelnden Fachwissen vieler Bearbeiter und dem gestiegenen Interesse an Einsparungen jenseits der Legalität hat die Notwendigkeit der Aufklärung sogar noch zugenommen. In der Tat sehen wir Behörden, die "gesetzesuntreu" sind, als "natürliche Gegner" an. Das zu bemängeln, ist mehr als merkwürdig.
Der Spiegel schreibt, unser Leitfaden enthalte "alle Informationen, die für den höchstmöglichen Bezug staatlicher Leistungen vonnöten sind." (43/2005, 42) Der Leitfaden klärt also die Bevölkerung über ihre Rechte und Pflichten umfassend auf. "Höchstmöglich" kann nur etwas sein, was im Rahmen der bestehenden von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Gesetze und der Rechtsprechung möglich ist.
Bundestag und Bundesrat haben das SGB II verabschiedet. Wenn man aber das Gesetz in Anspruch nimmt, reden Verantwortliche von Missbrauch, von der Dehnung der Gesetze, von Betrug, von Grauzonen usw.. Wenn die Inanspruchnahme eines Gesetzes als Missbrauch gilt, müssten eigentlich die Parteien und Institutionen, die das SGB II verabschiedet haben, als Helfershelfer des Missbrauchs auf der Anklagebank sitzen und nicht wir.
5) Zusammenfassung
Wir haben im Report des BMWA keinen einzigen Beleg für die Anschuldigung gefunden, wir würden Beihilfe zum Betrug leisten. Diese Behauptung stellt also eine Verleumdung dar. Wir fordern das Bundesministerium auf, die Verbreitung des Reports einzustellen und die Verleumdungen zurückzunehmen.
Die Aufklärung über und die Inanspruchnahme von Rechten wird in die Nähe des Missbrauchs bzw. Betrugs gerückt, um Alg II-BezieherInnen daran zu hindern, die von Bundestag und Bundesrat verabschiedeten rechtlichen Möglichkeiten in vollem Umfang wahrzunehmen. Das ist insbesondere deshalb nötig, um die vielen Milliarden an Gewinnsteuersenkungen nicht zurücknehmen zu müssen, die in keiner Weise die versprochenen Investitionen und Arbeitsplätze gebracht haben.
6) Schlussbemerkung
Ausgangspunkt für die Diskreditierung der parteilichen Beratung von Erwerbslosen ist der Umstand, dass die Bundesregierung statt der im Haushalt für Alg II für 2005 eingestellten 14,6 Mrd. Euro 25,6 Mrd. Euro aufwenden muss. Der verantwortliche Minister meint, die Differenz von 11 Mrd. Euro mit dem Missbrauch durch Arbeitslose und "Helfershelfer" wie uns erklären zu können.
In Wirklichkeit hat die Bundesregierung statt der 21,2 Mrd. Euro, die sie 2004 ursprünglich als Jahresbedarf kalkuliert hatte, nur 14,6 Mrd. Euro eingestellt, also 4,4 Mrd. Euro zu wenig. "Weil er unbedingt einen verfassungsmäßigen Haushalt vorlegen mußte, hat Hans Eichel die Zahlen schöngerechnet und diese Zahlen dann zur Grundlage seiner Planung gemacht," schreibt Carsten Germis in der FAZ. (23.10.2005, 44)
Statt den Bilanzbetrug zu kritisieren, der zu den angeblichen Mehrausgaben führte, hetzt Clement lieber gegen Arbeitslose und ihre Berater. Nur hier fließt das Wörtchen Betrug leicht von den Lippen.
Der wichtigste Grund für die verbleibenden Mehrausgaben von 4,4 Mrd. Euro besteht darin, dass mit Hartz IV Erwerbslose in großem Umfang aus der Stillen Reserve herausgeholt und über Alg II finanziert werden, z.B. Partner von ehemaligen ArbeitslosenhilfebezieherInnen, arbeitslose Jugendliche oder Alleinerziehende. Ein Blick in die Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit könnte darüber aufklären. (IAB Kurzbericht 10 vom 8.7.2005)
Ein weiterer wichtiger Grund besteht darin, dass mehr Erwerbstätige als jemals zuvor (Vollzeitbeschäftigte, Minijobber und Selbständige) ergänzendes Alg II bekommen, weil sie unterhalb des Alg II Niveaus leben. Hartz IV deckt also auch die Armut von Arbeitenden teilweise auf.
Weiterhin hat die Arbeitslosigkeit entgegen den Schätzungen von 2004 ganz einfach zugenommen. Nach einer internen Studie des Wirtschaftsministeriums ist der Zuwachs von Alg II-BezieherInnen zur Hälfte auf die steigende Arbeitslosigkeit und zur anderen Hälfte auf die gesetzlichen Neuregelungen zurückzuführen. (Spiegel 43/2005, 43)
Minister Clement aber konstruiert, dass die Mehrausgaben nicht durch geschönte Haushaltspläne, das Gesetz selbst bzw. die wirtschaftliche Lage zustande kommen, sondern durch Missbrauch und "Helfershelfer" wie uns.
Das ist eine unseriöse Fälschung.
Die Verleumdungen gegen Arbeitslose und in diesem Zusammenhang gegen uns stehen nicht nur in der Verantwortung des scheidenden Wirtschaftsministers, sondern der gesamten noch amtierenden SPD-Grünen-Regierung. Und sie sind Geschäftsgrundlage der neuen Großen Koalition, aus deren Reihen man keinerlei Kritik an Clements Vorgehen hört.
Frankfurt / Wuppertal, den 3. November 2005