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"Sleep In" für obdachlose Jugendliche: Keiner sieht es den netten Jungs an

Fabian ist der Erste. Selbstbewusst stapft er in den Raum, nimmt sich einen Schlüssel vom Brett, steckt sein Handy an das Ladegerät und beides dann in die Steckdose. Fabian ist 18 und er hat kein Dach über dem Kopf.

Er trägt eine lässige Jeans, Turnschuhe und ein kariertes Hemd. Die braunen Haare hat er ordentlich zurechtgelegt und mit Gel bearbeitet. Richtig „schnieke” würde man sagen, wenn man diese seltsam klingende Begrifflichkeit nicht selbst albern fände. Auf jeden Fall könnte man sich vieles vorstellen, wenn man Fabian vor sich stehen sieht. Nur nicht, dass der Junge kein Zuhause hat, dass er auf der Straße lebt. Warum er es nicht mehr bei seinen Eltern aushielt, darüber will er nicht sprechen.

Fabian ist der erste Jugendliche, der pünktlich um 19 Uhr beim „Sleep In - Stellwerk”, der Notschlafstelle für Kids, aufkreuzt. Seit Monaten kommt er jeden Abend vorbei und hofft, einen Schlafplatz zu ergattern. Sechs Jungen- und sechs Mädchenschlafplätze gibt es. Fabian ist bereits volljährig und eigentlich zu alt für die Notschlafstelle, die in diesem Jahr zehn Jahre alt wird.

Aufgenommen werden Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahre, älteren wird die Chance auf ein Bett aber nicht verwehrt. „Minderjährige haben bei uns Vorrang”, sagt Diplom-Pädagogin Katja Barthel. Sollten noch sechs Jungen unter 18 auftauchen, muss Fabian seinen Zimmerschlüssel wieder abgeben und sich eine andere Bleibe für die Nacht suchen. Das klingt hart, aber die Jugendlichen kennen die Regeln.

Fabian hat Glück: Er darf bleiben. Nur zwei Jungen klingeln noch im „Sleep In”. Sie setzen sich an den großen Tisch, spielen mit ihren teuren Handys und warten auf das Abendessen, das die Nachtwachen Sita und Tobias für die Jugendlichen aufwärmen. Es gibt Frikadellen mit Kartoffelpüree und Bohnen. Gleich drei Portionen will Blacky, einer der Jungen, vertilgen. „Für die meisten hier ist das die erste Mahlzeit nach dem Frühstück”, erzählt Sita. Ohne Geld treiben sie sich den Tag über auf der Straße herum, einige betteln sich ein paar Euro zusammen, andere versuchen es in der Spielhalle.

So wie Blacky. Blacky ist 19, etwas dicklich und trägt knallige Klamotten, bunte Strähnen im Haar und eine Cappy. Er nutzt das „Sleep In” seit vier Jahren regelmäßig. Das vergangene Jahr über war Blacky verschwunden, zurück bei seiner Mutter in der Nähe von Bielefeld. Jetzt ist er wieder da. Eine Perspektive hat der junge Mann noch immer nicht. Elf Jahre lebte er in einer Pflegefamilie, bis er nach einem Selbstmordversuch mit 15 im Heim gelandet ist. „Ich habe mich immer geritzt”, erinnert sich Blacky. Das mache er aber nicht mehr, sagt er.

Sein Leben im Griff hat Blacky, der einmal Musical-Star werden will, deswegen aber noch lange nicht. Seine Erlebnisse sprudeln geradezu aus ihm heraus: Schwul sei er und mit einem Videotheken-Besitzer zusammen. „Ich bin der am höchsten verschuldete Jugendliche Deutschlands”, wirft er hinterher und es klingt wie der Titel einer schlechten Doku-Soap. 150 000 Euro Miese soll er gemacht, viel Geld in Spielhallen gelassen haben. Einen Job hat Blacky nicht, dennoch erwähnt er beiläufig, für einen „homoerotischen Begleitservice” zu arbeiten. „Ich bin ein Stricher”, ruft er und lacht. Sein Lachen klingt verzweifelt.

Blacky erzählt und erzählt. Fabian sagt nichts, er liest in seinem Buch mit dem Titel „Blutbad”. Oft blickt er auf, schaut zu Blacky rüber, schüttelt den Kopf. „Das glaube ich dir nicht”, scheint er sagen zu wollen. Vielleicht hat er recht. „Vieles von dem, was Blacky zu erzählen hat, ist nur die halbe Wahrheit”, glaubt auch Sita.

Auch sie träumen von Familie, Haus und Hund

Immerhin ist die Presse da. Und dennoch: Lebensläufe, wie die des 19-Jährigen, die gibt es. „Es stecken teilweise schwierige Biographien dahinter”, sagt Sozialpädagogin Deborah Mutz, „Wir haben hier 14-jährige Mädchen mit Prostitutionshintergrund.”

Auch Drogen und Alkohol sind oft im Spiel. Aber Junkies, die kommen hier nicht her. „Die kann ich in den zehn Jahren an einer Hand abzählen”, sagt Katja Barthel und wundert sich auch ein wenig. „Als wir hier aufgemacht haben, haben wir mit einer ganz anderen Klientel gerechnet.” Junkies und vor allem Punks mit ihren Hunden und Ratten – die-se Jugendgruppen hatten die drei Tagedienstler Deborah Mutz, Stefan Meschkis, und Katja Barthel erwartet. Sie bleiben aber meist fern. Dafür kommen Jugendliche, denen man es nicht ansieht, dass sie Straßenkids sind. Jemand wie Fabian eben. Oder Hendrik mit dem Kapuzenpulli und den Stöpseln im Ohr.

Und irgendwann kommen sie nicht mehr, bleiben einfach weg. „Wir erfahren nur selten, was aus unseren Gästen wird”, sagt Katja Barthel. Aber sie kennen die Träume der Jugendlichen und wundern sich wieder. „Sie haben ganz bürgerliche Vorstellungen von ihrem Leben”, sagt Deborah Mutz, „In zehn Jahren wollen sie verheiratet sein, Kinder, einen Hund und ein Haus in der Vorstadt.” Nichts mit Revolution, die Welt verändern. Spießig sind ihre Zukunftsträume. Vielleicht mögen sie auch langweilig und bescheiden sein. Es scheint, als sehnen sich die Kids nach dem, was ihnen selbst verwehrt blieb: Ein liebevolles Familienleben.

*Alle Namen geändert

Quelle: WAZ vom 02.04.10

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