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Arge-Duo inspizierte Kühlschrank

Als es um 9.50 Uhr an seiner Wohnungstür klingelte, war er ahnunglos. Doch seitdem weiß er, dass die Arge Mitarbeiter beschäftigt, die gerne mal in die Kühlschränke von Hartz-IV-Empfängern oder -Antragstellern blicken. ...

... Für Ulrich Murr, 46 Jahre alt, ein weiteres Indiz dafür, dass man ihn fertig machen will. So empfindet er das, was ihm im Umgang mit der Behörde passiert. Er fühlt sich als Bittsteller. Erniedrigt. "Oder was haben die in meinem Kühlschrank zu suchen? Ist das wichtig, um in den Genuss von Hartz-IV zu kommen?"

Der 180 Meter große Mann, der einen blauen Nadelstreifenanzug aus besseren Tagen trägt, zittert. Er legt Papiere auf den Tisch. Kopieen vom Schriftverkehr mit der Arge, mit der Krankenversicherung, die ihn rausgeschmissen hat. Rausgeschmissen, weil er seit September kein Arbeitslosengeld II mehr bezieht. Jetzt, sagt er, könne er weder zum Arzt gehen, noch Medikamente kaufen. Obwohl er verschiedene Magenleiden habe.

Doch es kommt noch dicker: Seine Frau hatte einen schweren Unfall. Schulterbruch. Der 400-Euro-Job in einem Friseursalon ist futsch. "Sie kann sich nicht mal richtig behandeln lassen. Als Bedarfsgemeinschaft ist man gemeinsam versichert." Murr sagt, man habe die Arge auf diese Notsituation hingewiesen. Passiert sei nichts.

"Die Arge fordert immer wieder neue Unterlagen von mir. Aber manche Sachen kann ich gar nicht beibringen", sagt der Dortmunder.

Das fange an mit den Kontoauszügen der letzten sechs Monate, die die Arge nun sehen wolle. "Aber als Arbeitsloser ohne Zahlungseingänge hat man doch kein Konto", sagt Murr. "Wie soll ich nachweisen, dass ich meinen Lebensunterhalt durch Bekannte sicherstelle?" Er ist empört. Wenn er die nicht hätte, dann sei er am Ende. "Ich habe wenigstens noch Freunde, die mich und meine Frau unterstützen."

Jetzt ist er den Tränen nahe. Er schämt sich. "Ohne meine Schwiegermutter könnten wir nicht mal die Wohnung halten. Die Frau ist 80 Jahre alt. Wer weiß, wie lange sie das noch kann." Ulrich Murr sinniert: "Heute werde ich dafür bestraft, dass ich früher gut gelebt habe und großzügig war. Wenn man zwanzig ist, denkt man nicht an die Zukunft."

Nach 15 Jahren Geschäft verkauft

15 Jahre lang war er selbstständig. Importierte und verkaufte Kraftfahrzeuge, hatte eine Werkstatt. Mit der Osterweiterung verließ ihn der Erfolg, er verkaufte sein Geschäft. Dann vertrieb er Backwarenmittel. Irgendwann war diese Firma blank. Murr wurde arbeitlos.

"Ich spreche fünf Sprachen. Kann Computer programmieren, kann Autos reparieren oder verkaufen. Ich würde gerne arbeiten", sagt er. Aber er habe bislang lediglich 1-Euro-Jobs erhalten oder Angebote, die nicht ausreichten, um sich und seine Frau zu ernähren.

Für die Arge stellt sich der Fall so dar: Pressesprecher Markus Schulte teilte mit, dass die Kommunikation mit Murr nur per Post funktioniere: Er komme nicht persönlich vorbei und sei telefonisch nicht erreichbar. Die Grundversorgung erhalte Murr nicht, weil er den Antrag zu spät gestellt habe. Zudem fehlten Unterlagen.

Zur von Ulrich Murr als Kühlschrank-Untersuchung beschriebenen Aktion sagt Schulte: "Ein Ermittlungsdienst war vor Ort: Bei dem Anwesenden konnten laut mündlichem Bericht keine gesundheitlichen Einschränkungen festgestellt werden."

 

Und ein Kommentar zu diesem Artikel von der WR-Webseite:

Schlimm, dass in Deutschland so mit Menschen umgegangen wird. Murr ist nämlich kein Einzelfall, da kann der Pressesprecher jeden einzelnen schönreden und irgendwie schafft es die Behörde auch immer wieder den Almosenbittsteller in Bedrängnis zu bringen.

Im Zweifelsfall kann der Pressesprecher dem Redakteur immer sagen, der Bittsteller sei seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen. Irgendwelche Papiere und Nachweise die der Bedürftige nicht (so einfach) beschaffen kann, sind nämlich schnell mal angefordert. Und wenn der Hilfsbedürftige eines Tages eine mehrseitige Anforderung in den Händen hält, von lückenlosen Kontoauszügen (auch bei Onlinebanking original Papierauszüge der Bank, zur Not kann man die ja auf eigene Kosten nachbestellen, egal ob man das Bargeld dafür hat oder nicht) über Schulbescheinigungen für alle Kinder (was soll ein 10-jähriger schon anderes machen als zur Schule gehen?), zum x-ten Male eine Aufstellung aller Kranken- und Rentenversicherungsnummern aller zur Bedarfsgemeinschaft gehörigen Personen (haben Sie schon für ihre Grundschulkinder die Rentenversicherungsnummern eingeholt?), Einkommensnachweise für nicht vorhandenes Einkommen (!?), Einkommenssteuererklärungen, Versicherungsunterlagen, Bescheinigungen von Dritten die sich weigern diese auszustellen, bei Kleinunternehmern eine monatliche Bilanz (die vollkommen nichtssagend ist weil Gewinne erst am Jahresende ermittelt werden), alle sechs Monate eine Bescheinigung des Vermieters (der sich langsam veräppelt vorkommt, die Listen der Dinge die man den Antragsteller erledigen lassen will erwecken beim Journalisten irgendwann doch den Eindruck der Schikane, wenn man sich davon mal von mehreren Betroffenen die Schreiben angesehen hat.

Diesbezüglich kann man den Sachbearbeitern oftmals keine Sachkenntnis, aber jede Menge Kreativität bescheinigen. Missbrauch durch Bezug von Sozialleistungen in mehreren Kommunen und ähnliches zu verhindern ist eine Sache. Familien (auch mit Kindern!) teils wochen- oder monatelang ohne Bargeld zu lassen, Miete und Strom nicht zu zahlen eine andere. Machten die Sozialämter seinerzeit davon Gebrauch für ein einzelnes Familienmitglied als Zwangsmittel den Geldhahn abzudrehen, so versagt die ARGE heute einfach sofort der gesamten Familie die Leistungen. Diese sind dann (samt Kindern!) schnell mal von Strom und Heizung abgeschnitten und von der Obdachlosigkeit bedroht. Kein warmes Wasser, tagelang nichts zu Essen, wochenlang kein Licht. Auch, wenn so einiges auf der Anforderungsliste kaum beibringbar anmutet.

Wenn man sich nicht als Journalist outet, sondern ein paar Leute mal inkognito begleitet wird man Dinge erleben, die sogar professionelle Helfer zur Weißglut treiben. Denn so mancher Sachbearbeiter springt selbst mit den Helfern um, als wären diese Menschen vierter Klasse. Und damit gerade mal eine Klasse besser, als der Antragsteller. Gut, wenn man als Helfer abends professionell abschalten und auch zur Supervision gehen kann. Können die Betroffenen aber nicht. Da helfen auch einzelne Erfolgsfälle nicht, die man der Presse so gerne auf der Pressekonferenz mit Fototermin als "alles ist gut" verkauft. Die andere Seite, die Menschen die vollkommen verzweifelt sind und schon längst ohne Lebensmittel, Wasser, Strom und Telefon dastehen, leistet eben keine professionelle Pressearbeit. Die meisten schämen sich viel zu sehr, um sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Zeit haben sie dafür eigentlich auch kaum. Denn sie werden zum wiederholten Male stundenlang auf den überfüllten Fluren Am Kaiserhain sitzen, um die nächsten Unterlagen abzugeben. Persönlich. Denn selbst der Etagenbriefkasten, da sind sich mehrere Betroffene sicher, scheint ab und an statt in der Postverteilung im Aktenvernichter zu landen.

Hilfe für Betroffene gibt es unter anderem hier:

ALZ - Arbeitslosenzentrum Dortmund e.V
www.alz-dortmund.de

Arbeitslosenselbsthilfe Hörde
Burgunderstraße 5, 44263 Dortmund
Telefon: (0231) 42 00 57

Tenax e.V. - Initiative arbeitsloser Akademiker in Dortmund
www.diaa.de

Quelle: Westfälische Rundschau vom 28.01.07

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