Armut / Armutsberichterstattung in Dortmund
Ein Beitrag zum Plenum des Dortmunder Sozialforums von Wolf Stammnitz / Dezember 2003
Geschichte der Armutsberichterstattung in Dortmund
Nach einem Ratsbeschluß von 1993 wurden die Sozialforschungsstelle und das Gerontologische Institut der Uni Dortmund beauftragt, einen Armutsbericht für Dortmund zu erstellen. 1995 erschien dieser „Bericht zur sozialen Lage in Dortmund“. Aus der Begleitgruppe des Forschungsprojekts konstituierte sich 1996 die 1. Dortmunder Armutskonferenz, an der teilnahmen: AWO, Caritas, DPWV, DRK, Diakonisches Werk, Katholische Stadtkirche, Sozialdienst Katholischer Männer, VKK, DGB, ALZ und SFS. Ihre Ziele waren, die Ergebnisse des Armutsberichts in die öffentliche Diskussion zu bringen und sozialpolitische Konsequenzen für die Verwaltung zu ziehen.
Eine 2. Armutskonferenz, zwei Jahre spaeter, nahm die Praxis der Dortmunder Sozialverwaltung im Umgang mit Sozialhilfebezieher/-innen unter die Lupe und deckte unglaubliche, bürokratische, restriktive, ja z.T. gesetzwidrige Verfahrensweisen auf. Die klare Parteinahme für die Betroffenen zog wütende Angriffe der Verwaltungsspitze, insbesondere des Sozialdezernenten Pogadl auf sich. Wie bei der Zusammensetzung des Trägerkreises zu erwarten, zwangen die finanzielle Abhängigkeit von öffentlichen Fördertöpfen sowie die personelle Verfilzung mit den großen Ratsparteien die Teilnehmer, ihre unanfechtbar dokumentierten Fallstudien nachträglich zu relativieren, als Einzelfälle herunterzuspielen und politisch zurück zu rudern.
Erst vier Jahre danach, im Herbst 2002, traute sich der Trägerkreis, eine 3. Armutskonferenz einzuberufen. Inzwischen hatte sich der Nachfolger von OB Samtlebe, auch Sozialdemokrat, schon als neoliberaler Hardliner entpuppt, für den nach eigenem Bekunden Wirtschaftsförderung die beste Sozialpolitik sei, und der folglich den Sozialdezernenten noch anfeuerte, mit allen Mitteln die Sozialhilfeausgaben zu senken. Um jede Konfrontation mit dieser Stadtspitze zu vermeiden, beschränkte sich die 3. Armutskonferenz von vorn herein darauf, ein sehr allgemeines „Leitbild fuer eine soziale und beteiligungsorientierte Stadt Dortmund“ zu debattieren. Darin wimmelte es von unverbindlichen Bekenntnissen und Verbeugungen vor dem neoliberalen Zeitgeist. Zitate: „Für uns kommt es darauf an, die Herstellung gleicher Lebensbedingungen und den Abbau struktureller Benachteiligungen in Dortmund zu fördern ... Wir sind uns dabei bewußt, daß soziale Gerechtigkeit in der Spannung zwischen notwendiger Hilfe und finanziellen Möglichkeiten definiert werden muß ... Verantwortungsvolle Sozialpolitik heißt, eine effektive Unterstützung zur Verselbständigung zu ermöglichen und Bedingungen zu schaffen, von Tranferleistungen unabhängig zu werden ... Es gilt den wichtigen Zusammenhang neu zu entdecken, daß Wirtschafts- und Sozialpolitik zwei Seiten ein- und derselben Medaille sind. Sozialer Frieden in der Stadt ist auch ein Standortfaktor.“ Aber selbst so schwammige Kritik wie – Zitat: „Wir beobachten mit Sorge, daß soziales Handeln von einer Vielzahl gesellschaftlicher und politischer Akteure in den Hintergrund gedrängt wird zugunsten einer eindimensionalen Standortlogik“ – selbst diese verklausulierte Andeutung einer Kritik wies OB Langemeyer schroff zurück. Bezeichnend für den Charakter dieser Konferenz war, daß diese von Langemeyer gerüffelte Leitbilderklärung im Konferenzbericht gar nicht mehr auftauchte. Festzuhalten bleibt – seit zehn Jahren ist die Forderung nach einer kontinuierlichen Armutsberichterstattung für Dortmund nicht verstummt. Daß wir gut daran tun, sie jetzt wieder aufzugreifen, will ich mit einer knappen Situationsbeschreibung begründen.
Der Bericht zur sozialen Lage von 1995
Ein typischer Mangel der Studie der Sozialforschungsstelle war, daß sie im Widerspruch zum Titel nur die Armut, nicht den Reichtum in Dortmund untersuchte. Sie war sich des Mangels bewußt und begründete ihn mit der Datenlage. Dieser ist es auch geschuldet, daß vollständige Angaben in kleinräumiger Gliederung nur für die Sozialhilfe und die Erwerbslosenzahlen vorlagen. Die Studie behalf sich mit ergänzenden Interviews in bestimmten Armutsmilieus. So kam immerhin ein Bild zustande, das Armut ueber die reine Einkommenshoehe hinaus als umfassende Ausgrenzung von Menschen aus dem sozialen, kulturellen und politischen Leben beschreibt. Hier in diesem Überblick kann ich mich aber nur auf die Quantifizierung der Einkommensarmut beschränken.
Im Jahr 2002 betrug der pauschalierte Sozialhilfeanspruch eines Alleinstehenden, einschließlich aller Nebenleistungen, im Durchschnitt rund 620 Euro. Dies ist die offizielle Armutsgrenze in der BRD. Alle übrigen Sozialhilfebezieher/-innen bekommen noch weniger. Als arm galten somit 1995 in Dortmund offiziell 56.400 Menschen, das waren 9,3% der Stadtbevölkerung. – Allerdings, nach dem Gesetzestext des BSHG gilt die Sozialhilfe als Instrument zur „Bekämpfung der Armut“, das besagt, wenn man es wörtlich nimmt: Wer Sozialhilfe bezieht, ist schon nicht mehr arm, und da bis heute noch jeder Bundesbürger einen Rechtsanspruch auf dieses amtlich festgelegte Existenzminimum hat (Schröder ist gerade dabei, diesen Rechtsanspruch abzuschaffen), ist offiziell nur derjenige arm, der seine Sozialhilfeberechtigung nicht wahrnimmt, sei es aus Unwissenheit, Scham oder Angst vor obrigkeitlicher Überwachung. Die Sozialforschung nennt das die „verdeckte“ Armut und schätzt diese Dunkelziffer auf bis ueber 50%, d.h. auf je zwei Sozialhilfeempfänger kommt noch ein Mensch, der in Armut lebt. In Dortmund allerdings schätzte die Sozialverwaltung diese Dunkelziffer 1994 laut Studie nur auf weniger als 20%, ohne diese äußerst optimistische Annahme zu begründen. Das waren neben der Sozialhilfe mindestens weitere 11.000 Arme in Dortmund.
International gehen Sozialwissenschaftler und –politiker jedoch von einem weiteren Armutsbegriff aus als die Politik hierzulande. Z.B. für die EU-Kommission und für die UNO gilt als arm, wer weniger zum Leben hat als die Haelfte des nationalen verfuegbaren Nettoeinkommens pro Kopf. In der Bundesrepublik lag diese Armutsgrenze 1995 bei ca. DM 1.180, also noch etwas unter der pauschalierten Sozialhilfe für den Haushaltsvorstand, aber unter diese internationale Armutsgrenze fallen auch viele, die nach geltendem Recht keine Sozialhilfe bekommen, nämlich auch 70% aller Bezieher von Arbeitslosenhilfe und knapp 40% aller Bezieher von Arbeitslosengeld. In Dortmund sind das neben den Sozialhilfeempfängern weitere 20.000 Erwerbslose.
Und auch das ist noch nicht alles. Nach der internationalen Armutsdefinition reicht Armut bis weit in die Reihen der Erwerbstätigen hinein, umfaßt also auch die sogenannten „working poor“. Laut Dortmunder Armutsbericht von 1995 bezogen damals 38% aller erwerbstätigen Frauen und 16% aller erwerbstätigen Männer Arbeitsentgelte von weniger als der Hälfte des bundesdeutschen Durchschnittseinkommens, zusammen ca. 50.000 working poor, und von diesen bezogen nur 17.000 ergänzende Sozialhilfegrenze. Hinzu kommen die unterhaltsabhaengigen Kinder dieser Personengruppen. Ein besonderes Armutsrisiko trifft bekanntlich Alleinerziehende. Sie sind weit überdurchschnittlich sowohl auf Sozialhilfe als auch geringfügige Beschäftigung, Teilzeitarbeit usw. angewiesen. 1995 lebten 18.000 Dortmunder Kinder von Sozialhilfe. Demnach sind unter-18-Jährige doppelt so häufig von Armut betroffen wie Erwachsene. Rechnen wir das auf die international angewandte Armutsgrenze hoch, so wuchsen 1995 weit ueber 45.000 Dortmunder Kinder in Armutsverhaeltnissen auf. Und die meisten von ihnen werden arm bleiben, denn ueber den Ausschluss von Bildungs- und Berufschancen ist Armut erblich. Wenn man die Zahlen des Kinderschutzbundes von Deutschland auf Dortmund herunterbricht, müssen hier sogar 300 bis 400 Kinder auf der Straße bzw. ohne festen Wohnsitz leben.
Hinzu kommen endlich diejenigen älteren Dortmunder/-innen, deren Renten unterhalb der Armutsgrenze liegen. Sind die über-60-Jährigen unter den Sozialhilfeempfängern unterrepräsentiert (1995: 4,6% ihrer Bevölkerungsgruppe), so ist andererseits die verdeckte Armut in dieser Altersgruppe besonders hoch, im SFS-Bericht wird sie auf 100% (der über-60-jährigen Sozialhilfeempfänger/-innen) geschätzt. Einschließlich der in Alten- und Pflegeheimen lebenden Senior/innen kam der Bericht für 1995 auf 11,5% Arme in der entsprechenden Altersgruppe, das waren 17.500 Personen. Legt man aber statt der Sozialhilfesätze die international übliche Armutsgrenze an, so leben etwa 35.000 Dortmunder/-innen in Altersarmut.
Berücksichtigen müßten wir eigentlich auch noch diejenigen, deren an sich ausreichende Einkommen wegen Überschuldung bis auf das Existenzminimum weggepfändet werden. Aber darüber macht auch der Bericht von 1995 keine verläßlichen Angaben. Saemtliche Armutsmilieus zusammengenommen, kam Dortmund 1995 – sehr vorsichtig gerechnet – auf mindestens 160.000 Menschen, die zumindest zeitweise in Armut lebten. Das waren 26%, also mehr als ein Viertel der Dortmunder Stadtbevoelkerung. (Zum Vergleich – im Bundesdurchschnitt waren es nach dem Armutsbericht der Bundesregierung 2001: 22%. – Wobei in Dortmund z.B. die Dauer des Sozialhilfebezugs sowie die Arbeitslosigkeit, insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit als Hauptursache der Verarmung, schon 1995 deutlich ueber dem Bundesdurchschnitt lag, die verfuegbaren Nettoeinkommen aber um 6% unter dem Bundesdurchschnitt und 11% unter dem Landesdurchschnitt.)
Die Entwicklung von 1995 bis heute
Glauben wir den dünnen amtlichen Statistiken, so wäre die Armut in Dortmund seit 1995 zurückgegangen. Die registrierte Arbeitslosigkeit hat sich zwar um eineinhalbtausend erhöht, die Zahl der Langzeitarbeitslosen war gegenüber 1996 aber leicht rückläufig, die Zahl der Alleinerziehenden und deren Kinder ebenso, und die Fallzahlen der Sozialhilfe sanken drastisch von 56.000 auf 36.000. Also alles bestens, oder?
Das dürfen wir nicht glauben, denn wir wissen, welche dramatischen Ausmaße das Hinausdraengen Hilfebeduerftiger aus dem Leistungsbezug und den Statistiken angenommen hat. So war die drastische Senkung der Sozialhilfezahlen in Dortmund das erklaerte Ziel der Politik, und besonders bewährt hat sich dabei die Methode, Sozialhilfeberechtigte ueber sogenannte Hilfeplaene zur Aufnahme geringfuegiger Beschaeftigung zu zwingen oder anderweitig ans Arbeitsamt abzuschieben, in Dortmund schon Jahre bevor das offizielle Regierungspolitik in Berlin wurde. Die Arbeitsämter ihrerseits haben es geschafft, allein seit Beginn dieses Jahres unvorstellbare 1,3 Millionen Arbeitslose aus der Statistik und dem Leistungsbezug verschwinden zu lassen. Diese von Gerster so genannte „Neuausrichtung der Geschäftspolitik“ der BA dürfte auch die Dortmunder Arbeitsmarktstatistik um ca. ein Viertel bis ein Drittel beschönigt haben.
Wir wissen ferner, daß die Wertschöpfung der Dortmunder Wirtschaft seit 1998 rückläufig ist und die verfügbaren Einkommen im Dortmunder Durchschnitt in den letzten zehn Jahren nur um schlappe 10% zugelegt haben, und da die Oberen Zehntausend allein durch Steuergeschenke aus Berlin heute wesentlich höhere Einkommen haben als vor 10 Jahren, muß die Armut entsprechend mitgewachsen sein. Und wir wissen: Das einzige, was hier seit Jahren boomt und womit der OB seine Arbeitsmarktbilanzen für die Medien frisiert, sind Minijobs im Niedriglohnsektor.
Schließlich wissen wir seit der Untersuchung des Akoplan-Instituts, daß mit Hartz III und IV noch einige Tausend Dortmunder/-innen mehr unter die Armutsgrenze gedrueckt werden: Fuer 50.000 Menschen dieser Stadt bedeutet Schroeders Agenda 2010 Einkommenskuerzungen um ein Viertel bis ein Drittel.
Unsere Forderung
Eigentlich gehörte zur politischen Rechenschaftspflicht jeder Stadtspitze auch der Nachweis, wie sich die soziale Lage der Bevölkerung entwickelt. Seit 1995 ist Dortmund in sozialer Hinsicht gegenüber dem Bund und dem Land NRW noch weiter zurückgefallen. Hier wäre also eine Armutsberichterstattung umso nötiger, weil sich der staatliche und kommunale Abbau sozialer Standards hier noch schlimmer auswirkt als in den meisten anderen westdeutschen Kommunen. Doch während andere Großstädte wie z.B. unsere Nachbarstadt Bochum ihre Sozialpolitik längst auf eine regelmäßige Sozialberichterstattung stützen, hält unsere Stadtspitze den guten Ansatz von 1995 keiner Fortschreibung für würdig. Diese Verwaltung prahlt mit nunmehr fünf „Masterplaenen“ für die Stadtentwicklung: einem Masterplan Wirtschaftsflächen, einem Masterplan Einzelhandel, einem Masterplan Mobilität usw. – einen Masterplan Armutsbekaempfung haelt sie nicht fuer noetig.
Deshalb schlage ich folgende Forderung an die Stadt vor:
„Die Verwaltung hat mindestens alle drei Jahre einen Sozialbericht vorzulegen. Der Sozialbericht soll Armuts- und Reichtumsentwicklungen und deren Auswirkungen auf die Lebenslagen der Dortmunder Bevoelkerung darstellen, Ursachen analysieren, Rechenschaft ueber die Sozialpolitik der Stadt geben und Wege zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen vorschlagen. Der erste Bericht dieser Art muss noch vor Ablauf der Ratsperiode vorliegen und die Entwicklung seit 1995 dokumentieren.“
Wolf Stammnitz