Dortmunder Tafel: Wo die Armut Schlange steht
Stundenlanges Warten auf günstige Lebensmittel: Eine Schlange steht vor der Tür. Sie reicht über den großen Hof. Raus auf die Straße. Sogar bis zur nächsten Kreuzung. Hunderte stehen an. Nicht für Konzertkarten, sondern für Ausweise der Dortmunder Tafel.
Um 12 Uhr begann am Dienstag die Ausgabe der begehrten Scheine. 180 Stück. 3200 Dortmunder haben schon einen, um verbilligt in den Tafel-Läden einkaufen zu können. Die ersten Bewerber kamen bereits um 5 Uhr. Drei Stunden vor Ausgabebeginn waren schon 60 da. Erfahrungssache. Viele warteten letzten Sommer vergeblich an der Haydnstraße. Und waren auch nicht in den Genuss gekommen, in der Zwischenzeit einen der frei gewordenen Ausweise zu ergattern, mit denen man für kleines Geld gespendete Lebensmittel bekommen kann.
Sorgenfalten bei den Mitarbeitern
Sorgenfalten auf der Stirn von Monika Czybulka und Egon Gennat. Die Tafel-Mitarbeiter müssen die Neuankömmlinge wegschicken, die sich an der mehr als 100 Meter lange Schlange anstellen wollen. Zu spät gekommen. Dabei waren sie pünktlich um 12 Uhr da. Wenn die Tafel weitere Spender - Unternehmen, Handelsketten oder Supermärkte - findet, können weitere Ausweise ausgegeben werden. Wann das sein wird? Achselzucken. Patrizia Pokorny durfte sich zumindest noch anstellen.
Die 19-Jährige ist geschockt ob der Schlange, die vor ihr wartet. „Ich dachte, dass es erst um 12 Uhr losgeht.” Tut es ja auch. „Aber wenn du einen Ausweis haben willst, musste früher kommen” kommentieren die Wartenden vorne in der Schlange. Die Leidgeprüften, die beim letzten Mal vergeblich gewartet hatten. Mit ihrer vier Monate alten Tochter Josephine steht die junge Mutter ganz hinten in der Schlange. „Es ist unglaublich, wie viele Menschen auf Hilfe angewiesen sind. Im Amt ziehst du eine Nummer und wartest. Da siehst du diese Massen nicht.” Die Jugendhilfe hat ihr geraten, sich einen Tafel-Ausweis zu holen. Weil eben am Ende des Geldes noch immer so viel Monat übrig ist.
Haareschneiden schon Luxus
Sie ist alleinerziehend, zwei Kinder. Mit 15 ist sie von zu Hause weg. Mit 16 bekam sie ihr erstes Kind, jetzt das Zweite. Sie wird wohl länger Tafel-Kundin bleiben. Eine Sozialhilfekarriere. Aber nicht jeder hat eine solche Biographie: Viele Ältere, die mit 50 arbeits- und perspektivlos wurden. Nach einem Jahr Hartz IV. Das reicht nicht zum Leben. Doch da sind Kinder, die Essen wollen, Schulsachen brauchen. „Die Haare schneide ich mir ja schon lange selber”, sagt eine 46-Jährige. „Den einzigen Luxus, den ich mir noch leiste, ist die Aldi-Haarfärbung für 2,25 Euro.”
Neukunde ist auch ein 42-jähriger ehemaliger Musikalienhändler. Einst gut im Geschäft mit Platten und alten Musikgeräten - selbstständig und erfolgreich. „Doch dann kam die Euro-Umstellung, Musik-Download und Ebay.” Die Geräte werden jetzt im Internet gehandelt, nicht mehr im Laden gekauft. Bis zur Obdachlosigkeit glitt er ab, weil die Ämter dem ehemals Selbstständigen nichts zahlen wollten. Zwei Jahre lang, bis das Sozialgericht ihm Recht gab. Jetzt der Versuch, sich zu berappeln. Die Tafel soll dabei helfen - er bekommt einen der begehrten Ausweise. Doch viele andere gehen leer aus und müssen sich beim nächsten Mal wieder in die lange Schlange der Hoffnungslosen einreihen. Konzerttickets hatten sie schon lange nicht.
Not und Elend
Sie ermöglichen einen preisgünstigen Einkauf gespendeter Lebensmittel. Teilweise warteten die Hilfesuchenden stundenlang, um dann doch leer auszugehen.
Geradezu zynisch müssen diesen Menschen die Diskussionen über die (mittlerweile ausgesetzte) satte Diätenerhöhung für Bundestagsabgeordnete vorkommen. Denn die Erhöhung der Hartz IV-Bezüge fällt nicht gerade üppig aus: Ganze vier (!) Euro mehr.
Ebenso zynisch für sie: Die Hilfesuchenden konnten beim stundenlangen Schlangestehen die Statistik über den Anteil der Millionäre pro 10 000 Einwohner in NRW lesen. Dortmund bringt es dort nur auf 0,8 Millionäre, Schalksmühle dagegen auf 11. Laut Statistik sind in Dortmund nur noch 49 Millionäre zu Hause - sechs weniger als noch vor Jahren. Die Reichen gehen - den BVB-Profi zieht's wohl nach Herdecke.
In der Westfalenmetropole sind dafür immer häufiger Hunger und Armut zu Hause. Von Einkommens-Millionen wagen die meisten Dortmunder gar nicht zu träumen. Zehntausende sind schon froh, wenn sie ihren Familien am Monatsende überhaupt noch genügend Essen auftischen können.
Quelle: WR vom 27.05.08