Jugendgewalt: Die Schmerzgrenzen bei Gewalttätern haben sich verschoben
Intensivere Gewalt und mehr Drogen: Die Jugendkriminalität hat sich in Dortmund verändert. Ein Jugendrichter und ein Streetworker berichten über die Entwicklungen der vergangenen Jahre.
Für Herwart Küsell gehören Grenzüberschreitungen zum Erwachsenwerden dazu. „Auch wir haben früher unsere Kräfte gemessen. Aber wenn einer am Boden lag, war Schluss.” Damit spricht der Dortmunder Jugendrichter die Veränderungen an, die er in seiner 12-jährigen Amtszeit beobachtet hat. Die Zahl der Gewaltverbrechen jugendlicher oder heranwachsender Täter steigt zwar nicht rasant, aber die Vergehen haben eine neue Qualität erreicht.
Über ein Drittel unter 21 Jahren
In Dortmund hat die Polizei im vergangenen Jahr 2368 Fälle von gefährlicher und schwerer Körperverletzung registriert. 940 Tatverdächtige davon waren unter 21 Jahren. Damit ist ihr Anteil von 36,3 Prozent im Vergleich der letzten fünf Jahre relativ konstant geblieben. Dennoch macht sich Herwart Küsell Sorgen, wenn er sich die Entwicklung einzelner Fälle ansieht, die auf seinem Schreibtisch landen. „Die Jugendlichen sind nicht insgesamt schlechter geworden, aber die Schmerzgrenzen haben sich stark verschoben.”
Gott sei Dank habe es in Dortmund jedoch noch keine Fälle wie in München gegeben, wo Jugendliche einen Rentner fast und einen Geschäftsmann, am Boden liegend, zu Tode getreten haben.
Immer weniger Eltern ihren Kinder vor Gericht bei
Aber auch bei Intensivtätern, die nicht bis zum Äußersten gehen, zeigt ein Mann wie Küsell kein Verständnis: Zwischen Tat und Urteil dürfe dann nicht viel Zeit vergehen, um die Folgen der Handlung schnell spürbar zu machen. Anders sieht er es bei kleinerer Delikten wie Schwarzfahren oder Ladendiebstahl. Dann können die Monate, die zwischen der Anzeige und der Verhandlung liegen, eine heilende Wirkung haben – wenn das Umfeld und das Elternhaus funktioniert.
Leider muss der Richter feststellen, dass immer weniger Eltern ihren Kindern im Gerichtssaal beiseitestehen. Ausreden gebe es viele, für die jungen Angeklagten können sie den entscheidenden Schritt in die falsche Richtung bedeuten.
Der große Knacks in jungen Jahren
Wie bei Christian und Sascha. Bei dem 23-jährigen Punk und seinem zehn Jahre älteren Kumpel ist in der Kindheit und auch zuletzt einiges schiefgelaufen. Was genau, wollen sie am Fuß der Petrikirche nicht verraten. Hier hocken sie und haben einen speckigen Pappbecher vor sich aufgestellt, um sich ein wenig Geld zusammenzuschnorren. Im Gefängnis waren beide schon, wegen notorischen Schwarzfahrens. „Wenn zu Hause alles gut läuft, passiert so etwas in der Regel nicht”, sagt Streetworker Dietmar Fiedler.
Momentan sind es wieder die Ausreißer und Punker, die Fiedler besucht. Parks, Bahnhof, City. Seit 1991 ist der Streetworker im Amt. Er weiß, wo er seine Klienten findet. Sie zu stabilisieren, ist sein Ziel. Längst ist die Hoffnung gewichen, dass seine Jungs und Mädels ihr Leben auf der Straße gegen ein Reihenhaus, mit Kindern, Kombi und Hund eintauschen. Zu verkorkst sind die Lebensläufe zumeist, mit dem großen Knacks irgendwann in jungen Jahren.
"Einer, um den ich mich gekümmert habe, studiert jetzt"
Den einen oder anderen dazu zu bringen, dass sie sich an Termine gewöhnen, um sich so zumindest den HartzIV-Regelsatz abzuholen, das ist ein Erfolg. „An kleinen Highlights motiviert man sich immer neu. Einer, um den ich mich gekümmert habe, studiert jetzt.”
Die Zunahme der intensiven Gewalt, wie sie Richter Herwart Küsell festgestellt hat, kann Fiedler, was seine Punks betrifft, nicht bestätigen. Die hätten zwar auch ein hohes Aggressionspotenzial, wenn sie getrunken hätten, brutale Gewaltausbrüche kämen jedoch kaum vor. Die zweite Sorge Küsells aber teilt der Streetworker. „Der Missbrauch von Cannabis ist gestiegen und Ursache für die Antriebslosigkeit und die Gleichgültigkeit, mit der viele Schulabbrecher ihre Zukunft betrachten.” Kein Abschluss, kein Job, keine Perspektive. Eine Kombination, die geradewegs auf die Straße führen kann - wo dann die Fälle des Streetworkers und des Jugendrichters verschmelzen.
Quelle: WR vom 30.09.09