Nach unten geht es oft ganz schnell
Die Daten sind nur scheinbar beruhigend. Seit 1996 ist die Zahl der Obdachlosen in NRW um 70 Prozent zurückgegangen. Deshalb hat die Landesregierung die Fördergelder in Höhe von 1,2 Mio Euro für das nächste Jahr gestrichen.
"Ein bisschen Prozentrechnen kann ich auch", sagt Klaus Schröder. Der Leiter der Beratungsstelle für wohnungslose Menschen kramt ein Papier hervor, auf dem er die Statistiken notiert hat. Festgestellt habe er, dass die Zahl derjenigen, die unter freiem Himmel schlafen müssen - "draußen Platte machen", nennt er das im Fachjargon - tatsächlich zurückgegangen ist. Waren 1995 noch 407 Dortmunder wohnungslos, so zählte Schröder im vergangenen Jahr in der Beratungsstelle nur 145 Menschen. Knapp zwei Drittel weniger. Die Zahl der in Notunterkünften Unterge-brachten sank um gut 31 Prozent von 201 auf 138.
Das dicke Aber: Nur die "wahrnehmbare Obdachlosigkeit", so Schröder, habe abgenommen. Die versteckte Obdachlosigkeit, also das kurzzeitige Einquartieren bei Bekannten oder Verwandten, sei deutlich gestiegen. Um 64 Prozent, von 280 auf 458 in den vergangenen zwölf Jahren. "Schon schließt sich der Kreis", sagt Klaus Schröder.
Wie es ist, "Platte zu machen", davon kann Jochen Steinmann (Name von der Redaktion geändert) ein Lied singen. Sein sozialer Absturz begann 1997. "Ich war selbstständig", erzählt er. Altes Öl und Fett sammelte er von Pommesbuden ein und verkaufte es in Holland. Das Geschäft lief gut. Bis er jemanden kennenlernte, "mit Dollarzeichen in den Augen", wie es Steinmann ausdrückt. "Wir verdienen das Doppelte", habe ihm dieser eingeredet.
Das Geld gab der neue Partner schneller aus, als sie es einnahmen. "Erst kamen finanzielle Sorgen, dann kam die Sauferei", bringt es Steinmann auf den Punkt. Eines Abends sei er nach Hause gekommen, "voll wie 'ne Haubitze". Da hätten schon die Koffer vor der Tür gestanden. Seine Frau schmiss ihn raus.
Scheidung, weg von zu Hause, weg von den drei Kindern. Zwar hatte Steinmann erst Glück und fand sofort eine Wohnung. "Aber dann ging die Sauferei erst richtig los." Der heute 44-Jährige geriet an die falschen "Freunde". Am Nordmarkt, wo sich damals die Szene traf, betrank er sich. Einen Job hatte er nicht mehr. Steinmann lebte vom Arbeitsamt. Als er die Wohnung verlor, schlief er ein paar Monate auf der Straße, an einem Supermarkt. "Da war ein Gitter, aus dem kam heiße Luft raus", erklärt er.
Eine neue Bleibe fand er zwar, aber "in einer Alkoholikergegend". Alle 14 Tage hätten sich ein bis zwei Leute im wahrsten Sinne des Wortes "totgesoffen". Und er wäre wohl nicht aus dem Teufelskreis rausgekommen, hätte ihn sein Sohn nicht aufgesucht und um Hilfe gebeten. Der hatte sich nämlich selbstständig gemacht - dummerweise mit dem gleichen Partner, der Jochen Steinmann schon auf die schiefe Bahn gebracht hatte. Steinmann ging zur Entgiftung ins Krankenhaus und schwor dem Alkohol ab. Fünfeinhalb Jahre ist das jetzt her. "Man muss einfach den Alkohol rauslassen, dann sieht man die Welt ganz anders", sagt er inzwischen. Der Kontakt zur Familie ist wieder hergestellt, ein Job ist in Aussicht, wenn er sich von einer Herz-OP erholt hat.
Zur Beratungsstelle für Wohnungslose kommt Jochen Steinmann trotzdem ab und zu. Der Schreibkram "ist nicht mein Ding". Das habe immer seine Frau gemacht. "Hier helfen sie dir."
Daran wird sich nichts ändern, auch wenn die Landesfördergelder ausbleiben. NRW hatte 1997 die Initialzündung für die "aufsuchende Krankenpflege für Wohnungslose" gegeben und 80 Prozent der Personalkosten übernommen. Inzwischen tragen andere die Finanzierung für Krankenschwestern (Stadt Dortmund) und Ärzte (Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigung), die sich um die Obachlosen kümmern.
Quelle: WAZ vom 17.10.08