Schnüffler sind hier fehl am Platz
Es mag Sozialschmarotzer geben, sicher, so wie es auch Ackermänner gibt in unserer Gesellschaft. Wer aber Gabriele Kasper gesehen hat, käme nicht im Traum auf die Idee, diese Frau könnte sich auf dem Rücken der Allgemeinheit unrechtmäßig an einem Existenzminimum wie Hartz IV "bereichern".
Die Hörderin ist 48 Jahre alt, von Geburt an Spastikerin und seit ihrem 17. Lebensjahr querschnittsgelähmt. Damals musste sich die schwerstkranke Frau einer Operation unterziehen. Sie ging gründlich schief. Seither sitzt sie im Rollstuhl. Als wenn dies nicht genug sei, leidet sie außerdem an Asthma bronchiale und seit sechs Jahren an Multipler Sklerose. Dazu quält sie ständig die Instabilität der Wirbelsäule. Gabriele Kasper hat ununterbrochen Schmerzen und lebensbedrohliche Atemnot.
Auch Behörden und Medizinischer Dienst konnten vor diesem Schicksal nicht die Augen verschließen: Sie attestierten ihr eine 100-prozentige Schwerbehinderung und Pflegestufe 3. Kasper benötigt Hilfe rund um die Uhr. Sie kann nichts selbst erledigen.
Ihr Mann Bernhard, ein gelernter Werkzeugmacher, investiert seine ganze Liebe und Zeit in die Pflege seiner Frau. Der 44-jährige ist nicht berufstätig. Für einige Stunden am Tag wird er durch persönliche Pflegeassistenten unterstützt, die eine Aufwandsentschädigung durch den Landschaftsverband erhalten.
Und die Kaspers? Sie leben von Hartz IV und Hilfe zum Lebensunterhalt. Er erhält 511 Euro, sie 620 Euro. Macht zusammen 1131 Euro. Die Kosten für Miete (warm) sind darin schon enthalten.
Gabriele Kasper bekommt starke Luftnot, wenn sie zu dem Schreiben des JobCenters ARGE greift. Seit dem 21. März liegt es auf dem Tisch in ihrer Wohnung Am Clarenberg. Unter der Überschrift "Abklärung Ihrer Erwerbsfähigkeit" wird sie aufgefordert, ihre Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden. Ein amtlich befohlenes Schnüffeln?
Im Wortlaut: "Zur Überprüfung
Ihrer Erwerbsfähigkeit wird über den ärztlichen Dienst der Agentur ein
ärztliches Gutachten erstellt. Um Ihnen unnötige Wege zu ersparen,
können Befundberichte von den Ärzten angefordert werden, bei denen Sie
in Behandlung stehen..." - Ulrike Böhm-Heffels
Gesetz schreibt vor...
Gabriele Kasper ist schwerstbehindert. Für die Überprüfung ihres Gesundheitszustandes will die ARGE, dass die Hörderin ihre Ärzte von der Schweigepflicht befreit.
Ihr Mann Bernhard zürnt: "Seit Jahrzehnten ist bekannt, in welchem Zustand sich meine Frau befindet, dokumentiert beim Sozialamt. Schon im Dezember schrieb uns das JobCenter an, und wir wiesen die Mitarbeiter darauf hin, dass sämtliche Unterlagen vorliegen müssten, schickten u. a. noch eine Kopie vom Behindertenausweis." Er wundert sich, jetzt wieder von der ARGE-Filiale Am Kaiserhain zu hören. In gleicher Sache.
Fast verzweifelt ergänzt er: "Wenn sie meine Arbeitskraft zu Hause ersetzen wollen, durch die Festeinstellung einer zweiten Pflegekraft über die Pflegeversicherung, würde dies sehr viel teurer, als mich über Hartz IV zu bezahlen. Gegenüber der früheren Sozialhilfe habe ich 100 Euro weniger."
Markus Schulte, Sprecher der ARGE, bedauert sehr das ungeschickte Anschreiben. Er spricht von einem Einzelfall, weist aber darauf hin, dass der Gesetzgeber Überprüfungen festgeschrieben habe: "Das Krankheitsbild kann der Kollege nicht immer anhand der Datenlage sehen." Wieso nicht? Schulte: "Bei der Übergabe durch das Sozialamt an uns erhielten wir aus Datenschutzgründen nur rudimentäre Informationen, wie Namen und Adresse." Und wieso wird eine nicht Erwerbsfähige wie Gabriele Kasper nicht weiter vom Sozialamt betreut? "Sie lebt in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Mann, der wiederum über die ARGE Leistungen bezieht." In dieser Gemeinschaft sei die ARGE für beide zuständig, so Schulte. Eine Bitte hat er an die Kaspers: Die Zusendung der Kopie des Bewilligungsbescheides der Pflegeklasse 3. Dies reiche der ARGE völlig aus. Hoffentlich, denn die Kaspers haben wahrlich noch genug andere Sorgen. - bö
Quelle: RN vom 31. März 2006